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Glasnost in der Kirche

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Selbstbewußt stellen sich DDR-Jugendliche gegen Staat und Kirche. Der Ausbruch zu Pfingsten (FURCHE 24/1987) war kein Einzelfall. Man verlangt mehr Freiheit.

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Selbstbewußt stellen sich DDR-Jugendliche gegen Staat und Kirche. Der Ausbruch zu Pfingsten (FURCHE 24/1987) war kein Einzelfall. Man verlangt mehr Freiheit.

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Welche Sehnsucht wohl dahinter stand, an die Michaelskirche in Ostberlin das Wort „Polen“ mit großen Buchstaben und Ausrufungszeichen zu pinseln? Dieser Einfall stammt wohl kaum von einem polnischen Gastarbeiter, den im Land der „Ostdeutschen“ Heimweh überkam.

Kaum 50 Meter von jener Grenze entfernt, die unter Strom steht und an der geschossen wird, gehört nämlich schon ein Quentchen Mut dazu, ein Graffiti anzubringen. Denn Tag und Nacht wird dieser Straßenzug des

Leuschnerdamms, der durch die Mauer in eine Hälfte West und eine Hälfte Ost zerrissen ist, von Volkspolizisten kontrolliert. Und denen war die Inschrift bisher gleichgültig? Erstaunlich, denn wer die Situation im „real existierenden Sozialismus“ kennt und das real nicht existierende Selbst- • bewußtsein der SED-Führung in

Betracht zieht, weiß, mit welcher Nervosität gegen jede „ungewöhnliche“ Ausdrucksform staat- licherseits vorgegangen wird.

Man erlebte es doch zu Pfingsten, als Musik englischer Rockidole vom Westteil der Stadt über den „antiimperialistischen Schutzwall“, wie die trennende Mauer im offiziellen „Ostdeutsch“ nur genannt werden darf, hinüber auf die andere Seite schwappte, zu der nach Pop und Rock lechzenden DDR-Jugend.

Da riefen die Fans, in dem Augenblick, als die Vopos anrückten, zwar nicht „Polen“, sondern „Gorbatschow, Gorbatschow“ und „Rosa Luxemburg, Rosa Lu-

xemburg“. Aber man verstand, was damit gemeint war - und dafür gab es reichlich Prügel. Und als man sie schon abbekommen hatte, konnte man auch konkreter rufen: „Die Mauer muß weg!“

So detailliert steht es zumindest in einer zehnseitigen Broschüre nachzulesen, die anläßlich des Evangelischen Kirchentages in Ostberlin am letzten Juniwochenende hergestellt, wurde. Ein ungewöhnliches und einzigartiges Protestblatt für DDR-Verhält- nisse, das in seiner zensurfreien klaren Sprache eher einer polnischen oder ungarischen Untergrundschrift ähnelt als einem „Informationsblatt zum innerkirchlichen Gebrauch“, als das es ausgegeben wurde.

Aber so vieles war auf dem Ostberliner Kirchenereignis so anders als sonst. Nicht zu sehr beim offiziellen Programm, zu dem nur geladene Gäste und Gemeindemitglieder Einlaß fanden, sondern auf jener Gegenveranstaltung in den Räumen der Pfingst- gemeinde, zu der Basisgruppen aufgerufen hatten. Daß es dort zu „polnischen Zuständen“ wird kommen können, war vor der Veranstaltung Landesbischof Gottfried Forck natürlich nicht verborgen geblieben. Er, dem um ein gutes Einvernehmen mit der SED-Führung gelegen sein muß, um für die Kirche größtmögliche Freiräume einhandeln zu können, verwarnte die Zeitungsmacher schon im Vorfeld der Kirchen-

tagsvorbereitungen vor „unnötigen Provokationen“ der Staatsmacht und verwehrte Mitgliedern der Basisgemeinden — ein Sammelsurium von friedensbewegten Briefeschreibern, von Umweltaktivisten, Homosexuellen und mit Aufführungsverbot belegten Liedermachern, aber auch von sogenannten Prolis, Ausgestoßenen der DDR-Gesellschaf t - die kirchlichen Clubräume (siehe nebenstehenden Kommentar).

Die Amtskirche setzte in letzter Minute ein Zeichen und überreichte ihren aufmüpfigen Christen die Schlüssel zu den Gemeinderäumen der Pfingstgemeinde. Und das Chaos nahm seinen Lauf, wie manche kirchlichen Mitarbeiter konstatierten.

Eine Vikarin fand für diese Worte Verständnis: „Unsere Kirche muß neue Inhalte anbieten, sie leidet unter galoppierender Schwindsucht, wie man bei uns sagt. Ihr laufen die Mitglieder davon, und die Jugend versteht sie nicht aufzunehmen.“ Die Vikarin engagiert sich daher in der „solidarischen Kirche“, einer neugegründeten Basisgruppe, die DDR- weit mit einer neuen Bibelinterpretation aufwartet. Ihre Devise: Neuer Wein in neue Schläuche (Mk 2,22).

Um ihren Anschauungen Gewicht zu verleihen, marschierten die Basisgruppen zum Abschlußgottesdienst des Ostberliner Kirchentages, der einzigen Veranstaltung, die mit staatlicher Genehmigung öffentlich war und somit auch 26.000 Gläubige anzog, mit zahlreichen Transparenten, die selbst das DDR-Fernsehen nicht vollends unterschlagen konnte.

Darauf stand unter anderem zu lesen: „Glasnost in Staat und Kirche“, „Theologie der Befreiung auch für uns“, „Mündige Gesellschaft - mündige Bürger“.

Noch bleibt abzuwarten, wie Staat und Kirche auf die für DDR-Verhältnisse völlig neue Situation reagieren werden. Mit so massiven Bürgerprotesten waren die Führungen schon seit Jahrzehnten nicht mehr konfrontiert. Ob sich die Träume und Sehnsüchte der jugendlichen Christen erfüllen werden? Wolfgang Tremplin, einer der Organisatoren der Basiskirche: „Selten waren die gesellschaftlichen Konstellationen so günstig wie heute.“

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