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Glaube und Wissen vor Synthese

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Das Verhältnis von Wissenschaft und Glauben bestimmt seit jeher die geistige Situation einer Zeit. Versucht man dieses Verhältnis in der Gegenwart zu charakterisieren, so könnte man dazu das Schlagwort - Schizophrenie - anfuhren. Es ist weithin in der Gesellschaft üblich - und zum Teil als Selbstschutz wahrscheinlich notwendig - das denkende Alltagshandeln von den moralischen Vorstellungen zu trennen. Wir alle nehmen gerne für uns in Anspruch, in einem gewissen Sinne „gut" zu sein. Aber was das genau sein soll und wie wir uns in konkreten Situationen verhalten sollen, ist oft sehr schwierig zu beantworten.

Einigermaßen typisch für diese Situation ist die Aussage eines Naturwissenschaftlers: „Ich bin Positivist und Christ". i

Es gibt zwei Möglichkeiten der Erklärung fifr diese Aussage: entweder ist man sich der Begriffe Positivismus und Christentum nicht sicher oder man gibt offen zu, schizophren zu denken.

Ähnliche Beispiele lassen sich vielfach erbringen, so z.B. wenn der Gewerkschafter sagt: „Ich bin für internationale Solidarität unter den Arbeitern, aber auch für die Vollbeschäftigung, die z.B. durch den Export von Waffen in einen arbeiterfeindlichen Staat gesichert werden kann". Oder wenn ein • Umweltschützer meint: „Ich beanspruche selbst alle Vorteile der Technik, lehne aber eine Beeinträchtigung der Umwelt in meiner Umgebung durch die Technik ab." Das scheinen einfache Beispiele zu sein, sie sind aber sozusagen die Spitze des Eisberges, die Spitze des Zwiespaltes zwischen Glauben und Wissen, der sich tief durch die Gesellschaft zieht. Wie kann man heute glauben - also Religion - mit Wissenschaft verbinden, gleichzeitig leben?

Die Antwort ist eigentlich einfach: man kann es nicht. Religion und Wissenschaft stehen auf verschiedenem Grund. Die Wissenschaft auf dem Boden des antimetaphysischen Positivismus, die Religion auf dem metaphysischen des Glaubens. Daher ist die Schizophrenie in unserer Zeit legitim. Sie ist eine Vogel-Strauß-Politik, aber scheinbar die einzige, die praktikabel ist.

Die Folgen dieser schizophrenen Haltung sind dann: Anomalien und Skeptizismus. Auf diese Weise kommt man dann zu dem allgemeinen Eindruck einer Krisensituation in einer Zeit, in der es den meisten - im Westen lebenden Menschen - materiell besser geht als je zuvor. Wie ist das möglich?

Welche Krisensymptome sind es, die uns beunruhigen?

Es gibt sicher Krisenphänomene an der Oberfläche, zum anderen weltpolitische Situationen, die diesen Eindruck bestimmen. Abgesehen also von den immer größer werdenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten zufolge einer Uberbelastung der Ansprüche vor den Leistungen, der Umweltsituation, der Energiesituation, der Situation unseres Verhältnisses zur 3. Welt bleibt doch die Sinnfrage: wozu dies alles? Welche Ziele haben wir eigentlich?

Es waren in der Vergangenheit groß-* teils materielle Ziele, die sowohl von der Wissenschaft als auch von der Gesellschaft angestrebt wurden, wie z.B. Freiheit von physischer Belastung, Erhöhung des Wohlstandes. Und diese konnten auch erfüllt werden. Die Wissenschaft war angetreten mit dem Anspruch - früher oder später - alle menschlichen Probleme, bei genügendem'Aufwand an Mitteln, lösen zu können.

Der Glaube an die Rechtmäßigkeit 'dieses Anspruches ist heute durch Atomkraft und die Folgeprobleme, die Auswirkungen der Chemie auf die Umwelt und die allgemeinen Folgen der Industrialisierung, Urbanisierung erschüttert. Das gibt uns das Gefühl in einer Krise zu sein.

Dazu kommen die Aporien - die Ratlosigkeit der Wissenschaft, der Gesellschaft vor diesen Problemen. Wir sind unsicher geworden, in welcher Rich-■ tung die Lösung der Probleme zu suchen ist (vgl. z.B. Atomabstimmung über Zwentendorf). Dazu kommen ferner die Anomalien - Krise der Moral und Terror im gesellschaftlichen Bereich, paranormale Phänomene im wissenschaftlichen Bereich, um nur einige zu nennen.

Alle Symptome jedoch - Schizophrenie, Aporie, Anomalie - entspringen letzten Endes aus der Spannung

Glaube und Leben, d.h. aus dem Weltbild bzw. der Weltanschauung. Letztere wurden aber in den letzten Jahrhunderten in immer zunehmendem Maße von den - Wissenschaften bestimmt. Wenn wir uns daher heute -wie allgemein angenommen wird - in einer Krisensituation befinden, gilt es die Frage zu stellen: Befinden wir uns in einer Steuerungs- oder einer Ziel-Krise?

Die Beantwortung der Frage erscheint wichtig, da nach der jeweiligen Antwort auch die Mittel zur Lösung der anstehenden Probleme zu suchen sein werden.

Falls die gegenwärtige Krise eine Steuerungskrise sein sollte, dann genügen „operationalistische" Problemlösungsversuche. Das heißt, in diesem Falle müßten die Steuerungsmechanismen der Wirtschaft, des Staates, der Wissenschaften etc. verbessert werden. Man ist in diesem Falle aber der Meinung, daß das angestrebte Ziel - was immer es sei - in Ordnung wäre.

Derartige operationalistische Lösungen sind z.B. das vom Club of Rome zuletzt vorgeschlagene „Innovative Lernen", also eine Verbesserung des Lernprozesses, oder ein „technology assess-ment", d. h. der Versuch, die Auswirkungen der Technik vorauszubestim-men oder auch die Forderung: „Mehr Forschung", bzw. „mehr Bildung". In allen Fällen hofft man, die Krise durch bessere Steuerungsmechanismen zu beherrschen.

Falls es sich jedoch um eine Zielkrise handeln sollte, ist die Frage zu stellen: Welche Ziele hatte man bis jetzt und welche Ziele sollte man in Zukunft haben?

Bevor man an die Beantwortung dieser Frage herantritt, stellt sich eine andere Frage: wie soll man unterscheiden, ob es sich um eine Steuerungs- oder eine Zielkrise handelt?

Thomas S. Kuhn, Professor für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte in Princeton, hat vor einigen Jahren eine Theorie der Wissenschafts-Entwicklung aufgestellt. Nach Kuhn sind die Kriterien für einen Weltbild-Wandel: Auftreten von Anomalien, die mit dem vorherrschenden Weltbild nicht in Einklang gebracht werden können. Es bildet sich eine außer-normale Wissenschaft aus, die, gegen den Widerstand der normalen, dogmatisch erstarrten Wissenschaft, dieses neue Weltbild vertritt.

Schließlich wird das neue Weltbild angenommen, was Max Planck so ausdrückt: „Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, daß ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, daß die Gegner allmählich aussterben und die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut ist."

Wendet man diese Kuhn'schen Kriterien für einen Weltbild-Wandel auf

die gegenwärtige Krise an, so scheinen Schizophrenie, Aporie und Anomalien auf der einen Seite, die dogmatische Erstarrung auf vielen Gebieten der Wissenschaft, der Religion und auch im allgemeinen Weltbild auf der anderen Seite, diese Theorie zu bestätigen. Demnach hätten wir es aber nicht mit einer Steuerungskrise, sondern mit einer Zielkrise zu tun, denn es geht nicht mehr um die Ausbesserung mangelhafter Stellen in einem an sich intakten Weltbild, sondern um die Ausbildung eines neuen Weltbildes.

Dementsprechend sind auch die Lösungsansätze für die Krise zu sehen: diese könne nicht in den operationali-stischen Vorschlägen von „besseres Lernen", „mehr Forschung", „mehr Bildung" gesehen werden - so wichtig diese auch im einzelnen und als Nahzielmaßnahme sein mögen - sondern nur in einem neuen Weltbild. Die Frage ist: wie könnte dieses neue Weltbild aussehen? Und: Welches Verhältnis haben in diesem neuen Weltbild Wissenschaft und Religion?...

... Die Entwicklung der Wissenschaften - insbesondere der Naturwissenschaften - in den letzten Jahrzehnten zeigte, daß die menschlichen Erkenntnisstrukturen in Wissenschaft und Religion analog oder zumindest sehr ähnlich sind. Der Mensch ist kein -wie die positivistischen Wissenschaften annahmen - rein rational agierendes Wesen, sondern beherbergt auch irrationale, intuitive und transrationale Bewußtseinselemente.

Die von den Religionen als „religiöse Erkenntnis" oder „Offenbarung" postulierten Erkenntnisprozesse scheinen real zu sein und mit wissenschaftlichen Methoden untersuchbar.

Der Gegensatz von Wissenschaft und Glauben könnte damit - bei der von beiden Seiten notwendigen Toleranz für eine derartige Entwicklung - aufgehoben werden. Denn auch in der Wissenschaft ist es notwendig, um neue Erkenntnisse zu erlangen, entweder wie Goethe sagte: „bei den Phänomenen zu verweilen", oder wie Einstein sich ausdrückte: „ ... auf. Einfühlung in die Erfahrung sich stützende Intuition" -zu haben.

Daß die religiöse Erfahrung, wie sie von christlichen Mystikern, dem Yoga und dem Zeit' beschrieben wird, eine weit intensivere Erfahrung als die wissenschaftliche ist, scheint offensichtlich. Aber ausgehend von der Vorstellung des Thomas von Aquin, daß es nur eine Wahrheit, nämlich die göttliche, geben kann, wären - zum erstenmal in der Geschichte des Westens - die Wege der Wissenschaft und der Religion dieselben.

Die Auswirkungen eines derartigen Weltbildwandels sind nicht absehbar. Wer aber tief betroffen die unzähligen Anzeichen einer immer deutlicher sich abzeichnenden allgemeinen Krisensituation in der westlichen und auch in der östlichen Welt verfolgt, wird in diesem Weltbild-Wandel die Möglichkeit zu einer echten Lösung der Probleme sehen. Denn die operationalistischen Teillösungen kommen nie - so gut sie gemeint sind - an den Kern des Problems heran. Und der Kern des Problems ist der Mensch. Nur eine Änderung der Einstellung des Menschen kann eine echte Lösung der Probleme bringen. Diese Änderung beginnt beim Individuum, ist Teil des Individualisie-rungs- und Evolutionsprozesses, den der Mensch durchmacht.

Es wird also mit dem neuen Weltbild der neue Mensch erwartet. Der neue Mensch, der getragen von einer neuen Weltanschauung, der Synthese von Glaube und Wissen - einer „docta ignorantia" -, bei sich beginnt, an sich zu arbeiten und sich neuen Bewußtseinsstufen zuzuwenden. Eine neue, religiöse Ethik ist die Folge dieser Entwicklung. Mit einer solchen Ethik - und nur mit einer solchen - werden sich die anstehenden Probleme lösen lassen. Anders nicht.

Die Vorstellung vom „neuen Menschen" ist eine Utopie. Aber ohne Utopie sind keine neuen Zielvorstellungen möglich. Der Unterschied zwischen dem Utopisten und dem Realisten ist, wie Daniel Bell einmal ausführte, mit zwei Männern zu vergleichen, die auf eine sich drehende Scheibe schießen: der Realist zielt auf das, was er sieht, der Utopist auf das, was er nicht sieht, von dem er aber meint, daß es in Zukunft der Wirklichkeit entsprechen wird.

Univ.-Prof.Dipl.-Ing.Dr. Franz Moser lehrt an der Technischen Universität Graz Grundlagen der Verfahrenstechnik. Der Beitrag besteht aus Einleitung und Schluß eines Vortrages vor der Katholischen Hochschulgemeinde Graz.

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