7083020-1994_06_13.jpg
Digital In Arbeit

Deine, meine und die richtige Seite

Werbung
Werbung
Werbung

Welchen Reisepaß würde Jesus heute beanspruchen, „einen vatikanischen Diplomatenpaß oder einen israelitischen?“ fragte der jüdische Religionswissenschaftler Pinchas Lapide zu Maria Lichtmeß in Wien. Nach» Ansicht Lapides, mit seiner Frau Ruth beim „Jour fixe“ des Verbandes Katholischer Publizisten Österreichs (VKPÖ) zu Gast, spreche Jesu Biographie gegen den vatikanischen Paß, angefangen von der Beschnei- düng und der späteren Auslösung im Tempel (worauf Maria Lichtmeß zurückgeht) bis zur Kreuzigung als „König der Juden“.

Ein gläubiger Jude könne ohne Christentum 120 Jahre alt werden, ein Christ werde aber in der Bibel ständig dem Judentum begegnen, unterstrich Lapide. Seiner Ansicht nach habe die Lehre Jesu das Judentum weder gesprengt noch verlassen, doch Fehlübersetzungen führten zu Mißverständnissen. So habe Jesus nicht „Feindesliebe“, sondern „Knt-

feindung“ gepredigt. Das Alte Testament habe er nicht in Form von Antithesen („Ich aber sage euch“), sondern mit Radikalisierungen zitiert („ Und ich sage euch: Wer eine Frau nur begehrlich anschaut…“).

Ab dem ersten Jahrhundert, als

die Christen die Zerstörung Jerusalems als Strafe für die ungläubigen Juden deuteten, sei das Verhältnis belastet gewesen. Lapide: „Die Juden haben sich gegenüber den Christen mit unrühmlichen Ausnahmen jüdisch, die Christen aber gegenüber

den Juden mit löblichen Ausnahmen unchristlich verhalten.“ Daß der Vatikan Israel erst jetzt anerkannt hat, ist Lapide unverständlich. Immerhin habe Papst Pius XI. schon 1928 gesagt, geistig seien die Christen alte Semiten, in jüngster Zeit habe sich besonders Johannes Paul II. positiv zum Judentum geäußert.

Daß Antijudaismus noch wirke, wo christlicher Glaube schon abhanden gekommen sei, belegte Ruth Lapide mit folgendem Zitat eines Amerikaners: „Jesus Christus hat nie gelebt, aber die Juden haben ihn gekreuzigt.“ Pinchas Lapide betont: „Wir haben ihn hervorgebracht, umgebracht haben ihn die Römer. Der Jude Paulus hat die Botschaft verbreitet. Bis heute prägen jüdische Denkweisen das Christentum.“ Er empfiehlt Juden und Christen mehr Gemeinsamkeit und fünf bewährte Tugenden: Konfliktfähigkeit, Dialogbereitschaft, Kompromißwillen, Einfühlsamkeit und Geduld. Jede Streitfrage habe, wie ein alter Rabbi sagte, drei Seiten: „Deine Seite, meine Seite — und die richtige Seite.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung