Erstürmt die Theologie!

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Was tun angesichts der permanenten Schreckensmeldungen aus der katholischen Kirche?

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Was tun angesichts der permanenten Schreckensmeldungen aus der katholischen Kirche?

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Ständig kommen neue Schreckensmeldungen aus der katholischen Kirche. Sie betreffen Missbrauch und Vertuschung, Homophobie und Frauenmissachtung, Rassismus und Klerikalismus. Im Juni erneut ein Gräberfund in Kanada, 751 verscharrte Kinderleichen auf dem Grundstück des Umerziehungsheims „Marieval Indian Residential School“. Die
Massengräber in katholischen Mütterheimen Irlands, die im letzten Jahr für Entsetzen sorgten, waren kein Einzelfall.

Die Theologie bleibt von diesen Gewalttaten nicht unberührt. Seit dem Schlüsseljahr 2010, als die Vulneranz von Missbrauch und Vertuschung ans Licht kam, erlebt die Glaubenssprache eine Erosion. Zuvor schon hatte sie Risse und Brüche. Nun aber erscheint nicht mehr problematisch, dass die Sprache nicht greift, sondern dass sie greift, und zwar in ihrer Gewaltsamkeit. Was bedeutet es, wenn die Rede von der Gnade dazu dient, die Gnadenlosigkeit eines Kinderheims zu tarnen? Diese Erkenntnis verwandelt die schleichende Erosion in einen Felssturz. Ganze Landschaften der Theologie, die sich zuvor als Gipfelpunkte der Menschheit wähnten, stürzen in den Abgrund spiritueller, sexueller, humaner Gewalt.

In dieser Situation kommt mir ein Satz von Michel de Certeau in den Sinn. 1968 schrieb er im Rückblick auf die Revolten in Paris: „Im vergangenen Mai erstürmte man das Wort, so wie man 1789 die Bastille erstürmte.“ Könnten diejenigen, die unter der Vulneranz der Kirche zu leiden haben, die Theologie erstürmen? Und aus den Trümmern der Sprache etwas Neues schaffen? So dass der Glaube nicht mehr die Täter, sondern die Opfer stärkt. So dass nicht mehr Familienideologien zählen, sondern das Wort von Kindern Gehör findet. So dass gleichgeschlechtlich Liebende eine neue Bedeutung des Segens offenbaren. Erstürmt die Theologie!

Die Autorin ist katholische Vulnerabilitäts­forscherin an der Universität Würzburg.

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