Gelebte Tiefe

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Ines Charlotte Knoll über das Wir in Zeiten der Krise.

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Ines Charlotte Knoll über das Wir in Zeiten der Krise.

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Aus der Tiefe ruft es wie von weit und von sehr nah. Aus der Tiefe ruft es und es zweifelt und es hinterfragt. Aus der Tiefe weint und klagt es und es zittert und es wartet und langsam und sehr schnell stirbt es ab. Und es hat die fliegenden Höhen erlebt und es ist still durchs Tal gezogen und es wurde immer dürrer und aufgehitzt und durchscheucht und es mündete im Dunkeltraum und trieb in Flüssen und zog durch die Meere alle und verendete unbemerkt oder in geheimer Verabredung ignoriert, während unter Corona-Bedingungen die Schönheitsoperation durchgeführt wird. Wenn ein Mensch auch so gut versichert ist! Dann kann er sogar seinen Coronaurlaub antreten inklusive Impfung für alle Mitreisenden. Das wird ein Spaß. Leben ist herrlich! „Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe“, sagt Walter Benjamin.

Darf ich, was ich kann? Das ist meine Passionsfrage. Alle Grenzen überschreiten, mich überschreiten? Mich berauschen, manipulieren mit irgendetwas, das meine Lust und meine Gier stillt? Leben ausnehmen, alles ausschlachten? Darf ich, was ich kann? Und etwas fragt zurück und schreit laut in der Welt und fragt die, die nicht genug von sich selbst kriegen. Ich kriege nicht genug. Alles Kriegen-Wollen führt in den Krieg. Wir wissen es zu genau. „Aus der Tiefe rufe ich zu dir. Gott, höre meine Stimme.“ Leben ungezählt suchen eine Antwort auf die Frage, die das Leben ihnen selber ist aus alten und neuen Passionen und einer Traurigkeit, die eingezogen ist in das fremde Jetzt und all das Ungeschützte. Ein Menschenleben kommt als Antwort in die Zeit und das Sein und alle Schrecken. Aus diesem Leben ist der Glaube der Kirche entstanden, ein über alle Grenzen hoffendes Wir, das sich in diese Welt hinein lebt und hofft und liebt. Eine schönere Aufgabe als diese gelebte Tiefe kenne ich nicht.

Die Autorin ist evangelische Pfarrerin i. R.

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