Heilige Orte

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„Heimat“ scheint für viele Menschen ein Heiliger Ort zu sein. Die Macht, die hiervon ausgeht, kann ganze Gesellschaften umwälzen.

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„Heimat“ scheint für viele Menschen ein Heiliger Ort zu sein. Die Macht, die hiervon ausgeht, kann ganze Gesellschaften umwälzen.

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Vor nunmehr vierzig Jahren brach ich nach Israel auf, um in Jerusalem zwei Semester Ökumenische Theologie zu studieren. Das Studienjahr war reich an Erfahrungen. Mit den ehemaligen Kommiliton(inn)en treffen wir uns heute noch. Und in diesem Jahr, vierzig Jahre danach, sind wir wieder gemeinsam unterwegs, zwei Wochen im Heiligen Land.

An eine Erkenntnis erinnere ich mich besonders eindrücklich. In aller Naivität hatte ich erwartet, dass Heilige Orte Friedensorte seien. Dass der Tempelberg zwischen Judentum und Islam Konflikte erzeugt, ließe sich vielleicht politisch erklären. Aber dass es an Orten, wo nur eine Religion vertreten ist, genauso viel Streit gibt, das hat mich überrascht. Die Grabeskirche! Wer darf wann, wo, wie lange, in welcher Form beten oder gar die Orgel spielen? Jeder Winkel, jeder Stein, jedes Ritual wird mit Argusaugen überwacht. Weil sie Menschen heilig sind, erzeugen Heilige Orte Konflikte. Dass der Schlüssel zur Grabeskirche seit Jahrhunderten in den Händen zweier muslimischer Familien liegt, ist ein Segen.

Erst viel später begriff ich mithilfe der Religionswissenschaften, dass es solche Heiligen Orte auch in gänzlich säkularen Kontexten gibt. Beispielsweise im Familienstreit, wo es darum geht, wer das Elternhaus erbt, das Haus der Kindheit. Überhaupt scheint „Heimat“ für viele Menschen ein Heiliger Ort zu sein. Die Macht, die hiervon ausgeht, kann ganze Gesellschaften umwälzen. Das wird an den hitzigen Debatten um Migration und den Ausbau der „Festung Europa“ sichtbar; aber auch im Ukrainekrieg, wo das Heilige der Heimat die erstaunliche Widerstandskraft eines angegriffenen Volkes mobilisiert.

Ist Israel für mich ein Heiliger Ort, in all seiner Ambivalenz? Ich bin jedenfalls sehr gespannt auf meine Reise, zu der ich gerade aufbreche.

Die Autorin ist katholische Vulnerabilitätsforscherin an der Universität Würzburg.

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