Im Zeitalter der Stürze
"Jeder, der fällt, hat Flügel": Gedanken zur Zeit von Ingeborg Bachmann und Dorothee Sölle.
"Jeder, der fällt, hat Flügel": Gedanken zur Zeit von Ingeborg Bachmann und Dorothee Sölle.
„Ich bin ins Zeitalter der Stürze gekommen“, schrieb Ingeborg Bachmann. Eine so treffende Überschrift für das Empfinden unserer Zeit, in der viele die Orientierung verlieren ob all der sich überstürzenden Nachrichten mit unfassbar bestürzenden Inhalten. Als ein „katastrophales Fallen ins Nichts“ beschreibt die Dichterin ihren Zustand, als notiere sie das heutige Zeitsturz-Empfinden: Die Wahrheit fällt in sich zusammen und der Anstand und die Verantwortung und die Fürsorge und die gute Absicht. Irgendetwas zerbricht gerade.
„Jeder, der fällt, hat Flügel“, hat die Dichterin, deren 95. Geburtstag in diesem Juni begangen wird, auch gesagt. Da ist eine Kraft, die Wunder von Sinn wirkt und Mysterien von Mut ermöglicht. Immer sind wir auch eine werdende Welt, die Gott nicht aus seinen Händen und ihren Gedanken lässt. Darum sind wir doch auch je eine Alternative in Person und bleiben nicht in dem, was ist und wirken den Sinn, den wir in uns tragen, wie die Lichttage uns werden, als wollten sie dem Jetzt der Krise wirkliche Rettungsanker zuwerfen mit auffahrender Freude und dem sakramentalen Anklang von Sein und Werden und Wesen. Alles was ist, ist immer und ewig der Ergänzung wert und würdig. Die Seele dieser Welt und die einer jeden Anwesenheit hat ihren Ort und Halt in der Gnade und der Wahrheit eines Menschen, der in jedwedem Leben, selbst im vermeintlich verfehlten und gescheiterten, das Angesicht Gottes neu erblickt.
Religion sei der Versuch, „keinen Nihilismus zu dulden und eine unendliche (endlich nicht widerlegbare) Bejahung des Lebens zu leben“, sagt Dorothee Sölle. Wir haben den schönsten Grund, die Welt nicht zu entlassen aus der Hoffnung und dem Glauben an die Gottesliebe, die uns aus aller Vergeblichkeit zieht. „Jeder, der fällt, hat Flügel“.
Die Autorin ist evangelische Pfarrerin i.R.
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