Juden und der Ukrainekrieg

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Als Jude und Nachkomme von Holocaust-Überlebenden spricht Wolodymyr Selenskyj viele amerikanische Juden an

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Als Jude und Nachkomme von Holocaust-Überlebenden spricht Wolodymyr Selenskyj viele amerikanische Juden an

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Seit Kriegsbeginn ist die Solidarität mit der Ukraine auch und gerade unter Juden groß, vor allem in den USA. Mindestens zwei Drittel der amerikanischen Juden haben Vorfahren, die vor gut 100 Jahren aus dem damaligen Zarenreich eingewandert sind. Das ist zeitlich und räumlich so weit entfernt, dass in der kollektiven Erinnerung die Verwurzelung und Prägung durch die dortige Kultur die Schattenseiten von Armut, Restriktionen und Pogromen überstrahlen. Aber dieselben Gründe sprächen auch für eine emotionale Identifikation mit Russland als Herkunftsland und -kultur.

Ein anderer Grund, der die Identifikation mit der Ukraine im aktuellen Krieg erklären könnte, liegt in der Person von Wolodymyr Selenskyj. Als Jude und Nachkomme von Holocaust-Überlebenden spricht er viele amerikanische Juden an, erst recht angesichts des von Wladimir Putin vorgeschobenen Kriegsgrunds, die ukrainische Führung zu „entnazifizieren“. Zudem konnte man Selenskyjs Wahlerfolg 2019 auch als Sieg über die traditionelle Judenfeindschaft sehen, die ebenfalls zur ukrainischen Geschichte gehört. Aber auch die Identifikation mit Selenskyj allein dürfte kein entscheidender Grund zur Parteinahme sein. Und spezifisch jüdisch ist er nicht, da Selenskyi auch viele Nichtjuden für die Ukraine einnimmt.

Vielleicht ist es zur Abwechslung mal viel einfacher mit der jüdischen Unterstützung für die Ukraine: Sie dürfte vor allem dem Entsetzen über das Leid unschuldiger Menschen und über die Zerstörung von stabil geglaubten politischen Ordnungen und verbindlich geglaubten Wertvorstellungen entstammen. Wer dann noch Vorfahren oder Verwandte in Lwiw, Kiew, oder Odessa hat, fühlt noch intensiver mit. Wer Vorfahren oder Verwandte in Moskau, St. Petersburg oder Rostow hat, ist menschlich und jüdisch noch zerrissener als viele andere.

Der Autor lehrt jüdische Religions- und Geistesgeschichte an der Universität Potsdam.

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