Katastrophenforschung nicht nur zu Beirut 2020
Warum Menschen in Katastrophen über sich hinauswachsen.
Warum Menschen in Katastrophen über sich hinauswachsen.
Wenn eine Katastrophe geschieht, befinden sich die Überlebenden, die noch handlungsfähig sind, in einer prekären Situation. Sie erleben hautnah ihre Verwundbarkeit und werden mit den schrecklichen Verletzungen anderer Menschen konfrontiert. Damit können sie ganz unterschiedlich umgehen. Auf Planet A schauen sie sofort, wer Hilfe und Unterstützung braucht und was für die Verletzten getan werden muss. Sie sind sogar bereit, ihr eigenes Leben für Andere zu riskieren. Sie verhalten sich altruistisch. Auf Planet B suchen Überlebende sofort das Weite. Sie bringen sich selbst in Sicherheit, ohne auf die drängenden Bedürfnisse anderer Menschen zu achten. Notfalls schubsen und treten sie Schwächere aus dem Weg.
Auf welchem Planeten leben wir? Diese Frage stellt Tom Postmes, Professor für Sozialpsychologie in Groningen, jedes Jahr zu Studienbeginn. 97 Prozent der Studierenden sind sich sicher, auf dem egoistischen Planeten zu leben. Aber die Katastrophenforschung stellt das Gegenteil fest: Menschen helfen, wo immer es geht. Bei Katastrophen werden die meisten Menschen von Überlebenden gerettet.
Dieses Forschungsergebnis kam mir in den Sinn, als ich dieser Tage von der Katastrophe im Libanon hörte. Sicher gibt es Menschen, die von einem Unglück profitieren wollen. Das darf aber den Blick nicht für die Tatsache trüben, wie empathisch, fürsorglich und hilfsbereit die meisten Menschen handeln. Auch die Religionen, die in verschiedenen Formen Mitmenschlichkeit predigen, können zu einer besseren Wahrnehmung beitragen. Das erfordert Respekt und Wertschätzung allen Menschen gegenüber, die sich sozial engagieren – ohne schielenden Blick darauf, ob diese Menschen christlich, muslimisch oder jüdisch genug seien. Das Engagement zählt, vor Gott und vor den Menschen.
Die Autorin ist katholische Vulnerabilitätsforscherin an der Universität Würzburg.
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