Mehr an göttlicher Präsenz

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Vor drei Wochen wurde hier in den USA der höchste Feiertag im Jahreskalender begangen: Thanksgiving. Familien versammeln sich um den Esstisch, der sich unter Truthahn, Süßkartoffeln, Cranberry-Soße und Kürbiskuchen biegt. Am Tisch hört man allzu oft nicht nur liebevolle Gespräche, sondern auch lauten Streit. Festtagsstress und Erwartungsdruck bringen schwelende Konflikte in der Familie an die Oberfläche. Dasselbe passiert ja oft genug auch vier Wochen später zu Weihnachten.

Da trifft es sich, dass die Tora-Lesung am kommenden Schabbat, ziemlich genau zwischen den beiden Festen, die Geschichte von Josef und seiner Familie erzählt (Gen 37,1–40,23). Allerdings ist wohl kaum eine Familie so dramatisch dysfunktional wie diese: Josefs Brüder neiden ihm die Rolle als Lieblingssohn Jakobs und verkaufen ihn in die Sklaverei. Jakob trauert. Im nächsten Kapitel sterben zwei seiner Enkel, Kinder seines Sohns Judah, der dann von der verwitweten Schwiegertochter mit einem Trick verführt wird, weil sie schwanger werden will. Drei Kapitel vorher war Jakobs Tochter Dina vergewaltigt worden.

Die Bibel ist nicht immer erbauliche Lektüre, zumindest nicht auf den ers­ten Blick; dafür drückt sie sich nicht mit zuckersüßer Harmonie vor den dunklen Seiten menschlicher Existenz und Beziehungen. Sie erzählt diese Geschichten im Lichte von Themen, die die ganze Bibel bestimmen: die Hoff­nung der Menschen auf das Wirken Gottes, auf die Kraft des Gebets, auf die Befreiung aus Sklaverei und Erniedrigung, auf Anerkennung als Personen, auf liebevolle Beziehungen, besonders zwischen Eltern und Kindern. Josef steht für diese Verheißung; in seinem Namen klingt das hebräische hosafah an, das Mehr an göttlicher Präsenz im menschlichen Leben. – Vielleicht auch eine jüdische Weihnachts-Botschaft.

Der Autor forscht zurzeit zu Jewish Studies an der Vanderbilt University, Nashville/USA.

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