Spurenlese zu Himmelfahrt

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Über die Spuren, die dem Abwesenden Präsenz verleihen und neue Verantwortung.

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Über die Spuren, die dem Abwesenden Präsenz verleihen und neue Verantwortung.

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Im Bibelgarten meiner Heimatgemeinde, der aus dem 19. Jahrhundert stammt, stellt eine der vielen Kapellen und Grotten die Himmelfahrt Jesu dar. Im Hintergrund bringt ein farbenfrohes Glasfenster die Sehnsuchtsstadt Jerusalem zum Leuchten. Davor ein leerer Raum. Am Boden verweisen zwei Fußabdrücke darauf, dass hier jemand anwesend war. Das Abwesende verweist auf eine Präsenz, die fehlt. Mich erinnern diese Darstellung von Christi Himmelfahrt an die unzähligen Abdrücke menschlicher Hände, die heute noch in vielen Höhlenmalereien der Steinzeit zu finden sind. Als ich vor einigen Jahren einmal in einer solchen Höhle stand und vor mir diese Zeichen von Menschen sah, die vor tausenden von Jahren dort lebten, rückten mir diese Menschen merkwürdig nah. Es war ein berührender Moment.

Die Spur, die gelegt wird, verleiht dem Abwesenden Präsenz. Die Anwesenheit des Abwesenden – welche Paradoxie. Der Mystikforscher, Historiker und Jesuit Michel de Certeau interessierte sich besonders für Paradoxien. Daher hatte er ein Faible für dieses Fest, das heute um seine säkulare Plausibilität ringt. Certeau begriff die Leere, die die Himmelfahrt hinterlässt, als eine Freisetzung. Sie „gibt den künftigen Gemeinden Raum“. Die Jüngerinnen und Jünger können nicht mehr an Jesu Lippen kleben. Sie können sich nicht mehr darauf verlassen, dass Jesus ihnen sagt, wo es langgehen soll – nicht einmal und schon gar nicht später, als sie die Bibel in Händen halten.

Es reicht nicht aus, Vergangenes bewahren zu wollen. Die Gemeinden werden in eigene Verantwortung gesetzt, in eine „pluralistische Ordnung realer Beziehungen“. Das Entschwinden eröffnet die Möglichkeit zu Neuem. Ist die Kirche heute bereit, diese Verantwortung zu übernehmen und die Chance der Freisetzung zu ergreifen?

Die Autorin ist katholische Vulnerabilitätsforscherin an der Universität Würzburg.

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