Theologie der Dystopie oder: Liebe für diese Welt

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Jeder Augenblick unseres Lebens hat die Möglichkeit, ein eschatologischer Augenblick zu sein.

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Jeder Augenblick unseres Lebens hat die Möglichkeit, ein eschatologischer Augenblick zu sein.

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„Die Virologie entmachtet die Theo­logie“, schreibt Byung-Chul Han. Immer ist indes Theologie nur wahre Theologie, wenn sie entmachtet ist, entkleidet aller Hüllen und Gewänder, die sie schützen vor der Wirklichkeit. Theologie geschieht im Labyrinth der Lebenswelten, einzig unter dem Diktat der Realität, und sie besteht als Theologie der Dystopie unter der Annahme des Rätselhaften und Unerträglichen. Sie löst die Unaufgelöstheit nicht auf. Sie ist bei den Menschen und teilt das „Wissen des Menschen um das Ungenügen des Hier und Jetzt“. Die christliche Religion kommuniziert annähernd wahr nur auf Augenhöhe die frohe Botschaft, dass, wie Rudolf Bultmann sagt, „jeder Augenblick unseres Lebens die Möglichkeit hat, ein eschatologischer Augenblick zu sein“.

Durch die Gefälle der Zeiten erzählt jede Religion ihre Geschichten mit Relevanzen für das alles entgrenzende Absolute, das die Sehnsucht der Menschen in sich hineinnimmt; sie bringt in ihren Narrativen die wunderbaren Gegenbilder einer anderen Wirklichkeit zur Welt, gegen eine
Diesseitsreligion, deren gute Botschaft die Massenproduktion wäre, so die Philosophin Svenja Flaßpöhler. „Um das extrem hohe Leistungsniveau aufrechtzuerhalten“, verabreiche sie die „glücksspendende Droge Soma“.

Die Mutter von Achmad, die niemals die FURCHE lesen wird, fährt ihren durch einen Geburtsfehler geschädigten jugendlichen Sohn durch den Park, der an unser gemeinsames Wohnhaus grenzt. Sie sagt mir bei einer Begegnung strahlend in gebrochenem Deutsch, dass ihr Sohn mich liebt. Ich sehe es in seinen Augen, und ich liebe ihn auch, schon lange, weil er keine Worte hat, mit denen er spielen könnte, weil er nur rein lieben kann und mit seinem Schmerzkörper mit mir eine Liturgie des Lebens feiert und mit mir betet für den Sinn und die Liebe für diese Welt.

Die Autorin ist evangelische Pfarrerin i. R.

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