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Goethe— Rebell oder Klassiker

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Vom 10. bis 12. Mai haben in Wien namhafte Wissenschaftler und Schriftsteller „Goethes Einfluß auf die österreichische Literatur von Grillparzer bis Handke” diskutiert. Wir bringen einen Auszug aus dem Referat des Lyrikers Kurt Klinger.

Das einzig Einfache, das ich von Goethe zu wissen glaube, ist, daß er kein „Klassiker” gewesen ist, obwohl einzelne der Werke die Merkmale klassischer Ästhetik erfüllen, sie wohl überhaupt erst mit solcher hellenischen Reinheit in unsere Literatur eingeführt und anwendbar gemacht haben. Goethe war ein Experimentalist, der frap-pierendste, meine ich, unserer Sprache, von Versuch zu Versuch, von Erfindung zu Erfindung weitergeführt, selten in gerader und voraus-

Von KURT KLINGER sehbarer Richtung, sondern spektral, ein Konzeptor jener Bereiche, die er zu entdecken beabsichtigte, alles aufbietend, was dazu nötig war, auch Leichtsinn, Frechheit und Egoismus, insbesondere aber einen stupenden Scharfsinn und geistigen Mut, eine nie erstarrende, maßlos bewegliche Begehrlichkeit nach Freiheit und Freiraum — aus dem Festgelegten wie durch Geheimtüren entspringend, von keiner vorgeformten Meinung besetzt, gegen Bindungen entweder immun oder aufsässig.

Daß Goethe nicht „ausbrach”, sich nicht der größeren Welt im Stil der Enzyklopädisten Frankreichs zur Verfügung stellte, das gutgeheizte Nest Weimar nicht aufgab (schon zur Zeit der „Italienischen Reise” nicht, die ja nie als Abschied für immer, sondern als Wiederkehr für immer projektiert war), dieses doch wohl auch schmerzlich-bequeme Sich-Bescheiden erlaubte ihm überhaupt erst, sich seiner disziplinierten Unrast mit ganzer Hingabe zu überlassen. Der Außenstehende mochte einen Glassturz, einen mit provinziellen Ehren gepolsterten Käfig bemerken, von innen nahm sich der vorsorglich eng gehaltene Raum durch innere Weite anders aus.

Gott nimmt sich keine sechs Tage Zeit, seine Schöpfung Schritt für Schritt in vernünftiger Abfolge hervorzubringen und zu vervollständigen, bis er sich zuletzt als Skulpteur betätigt und das langwierige Werk mit dem Atemtausch mit seinem liebsten und undankbarsten Kind, dem Menschen, mit der Erschaffung der Seele krönt. Goethes Schöpfergott spricht sein gebieterisches „Es werde!” - und es geschieht etwas Entsetzliches. Ein „schmerzlich Ach”, ein unermeßlicher Wehelaut geht durch das All. Es reißt sich von Gott in die „Wirklichkeiten” los, die Ur-einheit zerreißt, die Elemente fliehen auseinander. Dieses Umfassen des Auseinanderstrebenden, des in die Unvereinbarkeit Geworfenen als ein universales .Wiederfinden' zu leisten, sei, nach Goethe, die menschliche Aufgabe, der Sinn der Existenz. Der Autor ist Herausgeber der Zeitschrift „Literatur und Kritik”.

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