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Götterdämmerung

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Nach Tschernobyl droht der UdSSR in der Ukraine auch eine politische Katastrophe. Man will Autonomie. Von einer Kern-Sowjetunion - Rußland, Weißrußland, Ukraine - ist keine Rede.

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Nach Tschernobyl droht der UdSSR in der Ukraine auch eine politische Katastrophe. Man will Autonomie. Von einer Kern-Sowjetunion - Rußland, Weißrußland, Ukraine - ist keine Rede.

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Motor der Autonomiebestre- bungen ist die Sammelbewegung „Ruch", unter deren Dach sich politische Initiativen verschie-* denster Richtung zusammenge- schlossen haben. Auch wenn man über Geschwindigkeit und Vor- gangsweise unterschiedlicher Mei- nung ist, das gemeinsame Ziel steht fest: politische und wirtschaftliche

Unabhängigkeit von Moskau.

Der politische Aufwind für die nationale Autonomiebewegung schlug sich auch in den jüngsten Wahlergebnissen nieder. Im Ober- sten Sowjet der Ukrainischen Re- publik in Kiew nimmt „Ruch" 118 von 450 Sitzen ein. Vertreter der Volksfront glauben aber, daß min- destens 145 Abgeordnete auf ihrer Seite stehen und weitere „überlau- fen" werden. In Lemberg, der Hauptstadt der Westukraine, in der „Ruch" im Mai 1989 offiziell ge- gründet worden war, hält die Be- wegung sowohl im Stadt- als auch im Regionalsowjet eine große Mehr- heit. Das Stadtparlament der west- ukrainischen Stadt Ivano-Fran- kowsk setzt sich gar zu 100 Prozent aus „Ruch"-Leuten zusammen.

Inzwischen läuten bei den mos- kautreuen Funktionären und bis- herigen Machthabern die Alarm- glocken. Etwa, wenn der neue Prä- sident des Lemberger Regionalso- wjets, Wjatscheslaw Tschernovil, ankündigt, was er in den nächsten Wochen und Monaten durchzuset- zen gedenkt. Er will die Industrie- betriebe seiner Region von den Moskauer Zentralbehörden weg- und unter lokale Verwaltung brin- gen. In der Westukraine soll der frische Wind des freien Marktes zu wehen beginnen, die Kolchosen will er in einem ersten Schritt in un- abhängige Kooperativen um- wandeln. Darüberhinaus verlangt der gelernte Journalist von den Kommunisten, daß sie ihm eine ihrer beiden Zeitungen in Lemberg überlassen.

Tschernovil, der 15 Jahre wegen „antisowjetischer Agitation" im Gefängnis verbracht hat und - als er vor wenigen Tagen sein Amt an- trat - das Porträt Lenins von sei- nem neuen Arbeitsplatz entfernte, gibt sich kampfbetont: Sollten sei- ne Forderungen nicht erfüllt wer- den, werde er Streiks organisieren. Die Unabhängigkeit der Ukraine ist für ihn der „Traum" seines Lebens.

Die Vertreter von „Ruch" ge- stehen offen, daß sie gute Kontakte zur polnischen Gewerk- schaftsbewegung Solidarnos'c' und zur litauischen Unabhängig- keitsfront „Sajudis" unterhalten. Dieselben Fragen, die man vor zwei Jahren in Vilnius diskutierte, be- wegen heute die Politiker in Lemberg.

Doch die mehr als 50 Millionen Einwohner zählende ukrainische Republik ist in ihrem politischen Gewicht schwer mit dem Drei-Mil- lionen-Volk der Litauer zu verglei- chen. Sie erbringt 20 bis 25 Prozent der wirtschaftlichen Leistung der Sowjetunion, beherbergt wichtige Teile der Grundstoffindustrie, ist mit ihrer schwarzen Erde eine Kornkammer.

Verständlich daher die ungemein scharfe Reaktion der Kiewer Zen- trale auf die nationale Bewegung, die in den Tagen um Ostern vor allem in der Westukraine eine atem- beraubende Dynamik auch im so-

genannten einfachen Volk entwik- kelthat. In einem am 18. April veröf- fentlichten Aufruf an die „werktä- tige Bevölkerung" wirft die Zen- trale den neuen politischen Kräf- ten „zügellose nationalistische Propaganda" vor und kündigt „entschiedene Maßnahmen" an.

Die Nationalisten in der West- ukraine schürten auch - so ein weiterer Vorwurf - „absichtlich den Konflikt zwischen Gläubigen der ukrainisch-katholischen und der orthodoxen Kirche". Die mit Rom unierte katholische Kirche des östlichen Ritus, 1946 von Stalin ver- boten und in die russisch-orthodo- xe Kirche zwangseingegliedert, ist im Herbst vergangenen Jahres wie- der zugelassen worden. Sie verlangt nun alle Kirchen wieder zurück, die ihr 1946 weggenommen worden waren. Die Orthodoxen sind aber nur zu einer Teilrückgabe bereit. Eine einvernehmliche Lösung

konnte auch unter Vermittlung des Vatikans nicht erreicht werden.

Den bisherigen Höhepunkt er- reichte der Konflikt, als eine Wo- che vor Ostern der Lemberger Stadtsowjet entschied, die St. Ge- orgs-Kathedrale wieder der ukrai- nisch-katholischen Kirche zurück- zugeben.

Als sowohl die Orthodoxie als auch die Behörden in Kiew und Moskau die Entscheidung des Lemberger Stadtparlaments als „gesetzwidrig" bezeichneten und eine Übergabe der Kathedrale ab- lehnten, spielten sich vor der Kir- che skurril anmutende Szenen ei- nes „liturgischen Krieges" ab. Wäh- rend auf dem Stiegenaufgang vor dem Tor der versperrten Kathedrale die Katholiken mit Hymnen, An- sprachen und Gebeten für eine Rückgabe demonstrierten, pfote- stierten orthodoxe Gläubige am Fuße der Stiege mit denselben Mitteln gegen die Entscheidung der Stadtregierung.

Die orthodoxe Kirche hat sich in- zwischen an Präsident Gor- batschow gewandt und um dessen „persönliches Eingreifen" in den Konflikt gebeten. Gorbatschow hat vor wenigen Tagen reagiert. Er kündigte die Aufhebung der Be- schlüsse des Lemberger Stadtso- wjets an, weil dieser mit der Kir- chenrückgabe seine Kompetenzen überschritten habe. Für „Ruch"- Anhänger ein neuerlicher Beweis, daß Gorbatschow nur eine Fortset- zung des russischen Imperialismus mit anderen Mitteln ist.

In der Ukraine braut sich ein revolutionäres Gewitter zusammen. Niemand weiß, welche Schäden es anrichten wird. Auf eines weisen „Ruch"-Vertreter immer hin: „Der Westen hinkt weit hinten nach im Verstehen dessen, was sich heute in der UdSSR anbahnt."

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