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Golda Meïr

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Aus 26 Reden, Erklärungen und Interviews, die von der heute 75jähri-gen Golda Meïr im Laufe vieler Jahre, angesichts der sich ständig verändernden politischen Verhältnisse und bei den verschiedensten Anlässen gehalten worden sind, entsteht bei der Lektüre dieses Buches das Bild einer Persönlichkeit, deren Geschlossenheit und Entschiedenheit in der sogenannten freien Welt des Westens nicht ihresgleichen hat. Im zaristischen Rußland 1898 geboren, genoß sie in den USA die in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg übliche Erziehung eines College-Girl, um seit 1921 das Schicksal der Juden in Palästina in allen Krisen und Erfolgen als Intellektuelle im Kibbuz und an der Spitze der Regierung des

Staates Israel vorbehaltlos zu teilen.

Die Frage, ob die Zeit den Menschen oder der Mensch die Zeit formt, beantwortet sie auf Grund der Gewalt der Tatsachen in ihrer eigenen, angesichts des heutigen Politikertyps einzigartigen Weise. Ihre stärksten Kindheitserlebnasse, die Judenpogrome in Rußland, hinterlassen in dem Mädchen kein Angstgefühl. Vielmehr bildet sich in ihr der Wille, nach diesen und allen anderen Verfolgungen ihres Volkes nie mehr zu dulden, daß es hilflos der Gewalttätigkeit anderer ausgesetzt sei. 1917 faßt sie den Entschluß, aus den USA nach Palästina auszuwandern; in jene „Heimstätte“, die damals in der britischen Balfour-De-klaration dem jüdischen Volk versprochen worden war, obwohl die britischen und die mit diesen verbündeten arabischen Truppen dieses Gebiet noch gar nicht von den Türken und ihren Verbündeten erobert hatten. Im selben Jahr heiratet sie unter der Bedingung, daß ihr Bräutigam, ein wohl eher unpolitischer und musischer Mensch, gewillt sei, mit ihr das unsichere Los im arabischen Palästina zu teilen. 1921 betritt sie den Boden Palästinas und sie erlebt bis heute jede Phase eines ununterbrochenen Kampfes, mit dem sich ihr Volk gegen die länger als ein Jahrtausend ansässigen Palästinenser und gegen die Politik von Großmächten seinen Lebensraum schafft. In allen Phasen dieses dramatischen und für alle Teile opferreichen Kampfes ist sie Anwalt der unglaublich direkt und entschieden vorgetragenen Verlangen ihres Volkes. 3960 weist sie vor der UNO die Verurteilung ihres Landes wegen der bei der Entführung des Adolf Eichmann erfolgten Verletzung der Souveränität Argentiniens zurück. Kühl und kurz gefaßt bedauert sie, daß bei dieser Entführungsaktion ihre Landsleute die Souveränität eines fremden Staates verletzt haben; sie findet kein Wort für die damit getane Verletzung des Völkerrechtes und säe denkt wohl nicht daran, weil es ihr so wie anderen Menschen noch nicht vorstellbar ist, daß fortan Flugzeuge, Entführungen und Erpressungen die immer häufiger gebrauchten Instrumente eines terroristischen Kampfes auf nationaler und internationaler Ebene werden sollten.

Damals, 1960, und heute, 1973, sind für sie UNO-Resolutionen, die ihrem Land unerwünschte Auflagen erteilen, Papiere, die zu den Akten genommen werden. Sie weiß, daß die freie Welt des Westens das ungeheure Debet der Menschenopfer ihres Volkes so oder so honorieren wird, jenes Blut, das zusammen mit der fast unbedingten Unterstützung seitens der USA ihr Volk in die Lage versetzt, der von der UdSSR instruierten und installierten arabischen Welt auf die Gefahr eines Krieges bis aufs Messer zu widerstehen.

Golda Meïr hat in sich das nationalistische Konzept des früheren Wiener Burschenschafters Theodor Herzl in Form eines Sozialismus auf nationalreligiöser Basis vitalisiert. Als 16jährige trat säe in Milwaukee der zionistisch-sozialistischen Bewegung bei, heute ist sie die Große Frau in der sozialistischen Internationale. Die großen Untugenden, die nach den heutigen Maßstäben der freien Welt des Westens so etwas wie militaristisch verfestigte Kampfbereitschaft, konkrete Annexionspolitik und Emanzipation von der in der UNO verkörperten internationalen Solidarität sind, bleiben in den Auseinandersetzungen mit der von ihr verfochtenen Politik Tabus, über die man besser gar nicht viel spricht. Möge ihrem Volk und der Welt die irrtümliche Annahme erspart bleiben, daß auch in aller Zukunft dieses Debet von künftigen Generationen unter allen Umständen und in allen Teilen der Erde honoriert wird.

Es ist die unauslöschliche Tragödie im Leben Golda Meïrs, daß der Staat Lenins, der ohne die Teilnahme der Juden im Kampf des Kommunismus nicht denkbar wäre, heute in der schärfsten Konfrontation zu Israel steht und in seinem Inneren ausdrücklich auf die jüdische Intelligenz, der gerade er in allen Generationen seit Marx das Gefüge verdankt, verzichtet.

Im 70. Lebensjahr, in einem Alter, in dem man nach den jetzt in Österreich geltenden Ansichten nicht einmal mehr auf den politischen Flohmarkt anbringlich ist, wurde Golda Meïr die Nachfolgerin des Ministerpräsidenten Levi Eschkol. Angesichts hiesiger Zustände fragt sich der österreichische Leser des Buches, was wohl mehr Respekt verdient: die Courage des im Kriege befindlichen Landes, eine Frau an die Spitze zu berufen, oder die Frau, die im sogenannten Greisenalter eine Stahlfeder der israelischen Resistance ist. Ob sich wohl Österreich, das an einem vielleicht noch mehr neuralgischen Punkt der Erde existiert als Palästina, eine Persönlichkeit wie Golda Meïr wünschen sollte, wenn wieder einmal die Sturmvögel in Europa auffliegen? Und ob es hierzulande und in Europa derzeit überhaupt ein Volk gibt,. das einen solchen Typ tragen könnte?

GOLDA MEÏR: LEBEN FÜR MEIN LAND. Selbstzeugnisse aus Leben und Wirken. Herausgegeben von Maria Syrkin, Scherz-Verlag, Bern 1973, 312 Seiten.

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