7051809-1991_04_03.jpg
Digital In Arbeit

Gorbatschow ist isoliert

Werbung
Werbung
Werbung

Dem „blutigen Sonntag" von Vilnius ist ein zweiter gefolgt: Sondereinheiten des sowjetischen Innenministeriums haben bei einem überfallsartigen Angriff auf das lettische Innenministerium fünf Menschen getötet. Und die plumpen Lügen der sowjetischen Führung sind an Zynismus kaum mehr zu

überbieten: Verteidigungsminister Dimitri Jasow erklärt sich für nicht zuständig, Innenminister Boris Pugo will vom Sturmangriff seiner Truppen nichts gewußt haben - und Michail Gorbatschow schweigt.

Das Lügenmärchen, verspätet informiert worden zu sein, hat er ja schon nach dem Blutbad von Vilnius (FURCHE 3/1991) aufgetischt - und es nachträglich gerechtfertigt. Der Vertreter Litauens in Moskau, Bickauskas, hat inzwischen klar erklärt, daß er und Präsident Vy-tautas Landsbergis Gorbatschows engste Umgebung sofort bei Beginn der Ereignisse informiert haben. Gorbatschow hat diese Taktik bereits beim Massaker in Georgien im April 1989 angewendet.

Aus Litauen sind mittlerweile Zweifel an der Zahl der Todesopfer laut geworden. Drei Tage lang durfte kein Arzt den Fernsehturm betreten, Augenzeugen beobachteten, wie gefüllte Säcke fortgeschafft wurden; vermutlich hat das Militär Leichen beseitigt. Entgegen dem Stillhalteabkommen gibt es Militärkontrollen, Menschen verschwinden für Stunden und Tage - so auch der neue Rektor der Universität.

Wie könnte es im Baltikum weitergehen? Entweder werden die

„Komitees zur nationalen Rettung" auf den Gewehrläufen als Regierung installiert - dann kehrt die Sowjetunion mit viel Blutvergießen einstweilen zum Stalinismus zurück und muß sich selbst zu Tode rüsten. Oder die Militäraktionen sollen die Einführung der Präsidialherrschaft vorbereiten. Dies schiene naheliegend; allerdings gibt es für ihr Funktionieren noch kein wirkliches Konzept.

Oder es werden, wie diesen Montag dem estnischen Parlamentspräsidenten Rüütel von Gorbatschow und Jasow zugesichert, „in ein paar Tagen Verhandlungen über die völlige Unabhängigkeit" aufgenommen. Aber wozu dann das gewaltsame Vorgehen?

Fest steht, daß Gorbatschow isoliert ist, daß sich nahezu alle ehemaligen Weggefährten und Berater von ihm abwenden. Sicher ist, daß es zu einer Verschärfung der Rivalitäten zwischen dem Kreml und den Teilrepubliken kommen wird, insbesondere mit der Russischen Föderation und Boris Jelzin. Und unzweifelhaft ist die Stabilität der gesamten Sowjetunion gefährdet.

Da mag manchem eine Diktatur mit Gorbatschow als das kleinere Übel erscheinen. Doch mit diktatorischen Mitteln ist Stabilität auf Dauer nicht mehr zu erzielen, und die Wirtschaft läßt sich schon gar nicht verbessern.

Wer an einer Stabilität der Sowjetunion interessiert ist, muß mit allen Mitteln Demokratie und Selbstbestimmungsrecht der Völker einmahnen. Wer aber das gewaltsame Vorgehen als Preis für vermeintliche Stabilität und den Machterhalt Gorbatschows stillschweigend in Kauf nimmt, wird mitschuldig am Blutvergießen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung