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Gorbatschow zeigt Format

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Was nach Lenin noch keinem Führer der Sowjetunion in so erstaunlich kurzer Zeit gelungen ist, bringt der heutige Kremlchef zuwege: Nach 113 Tagen seiner Herrschaft ist Michail Gorbatschow im Besitz höchster und unbestrittener Macht.

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Was nach Lenin noch keinem Führer der Sowjetunion in so erstaunlich kurzer Zeit gelungen ist, bringt der heutige Kremlchef zuwege: Nach 113 Tagen seiner Herrschaft ist Michail Gorbatschow im Besitz höchster und unbestrittener Macht.

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Der große Rivale um die Nachfolge der Vorgänger im höchsten Parteiamt, Jurij Andropow und Konstantin Tschernenko, Grigo-rij Romanow, wurde Anfang dieser Woche vom Zentralkomitee seiner höchsten Funktion, Mitgliedschaft zum Politbüro und ZK-Sekretär, entkleidet und in die politische Wüste geschickt.

Aber trotz seiner enormen Machtfülle hat Gorbatschow mit der Gepflogenheit seiner drei

Vorgänger gebrochen und sich nicht selbst zum Staatspräsidenten gemacht. Neuer Staatschef ist Andreij Gromyko, der erfahrenste sowjetische Diplomat und mit 28 Jahren Leitung des Außenministeriums der bei weitem am längsten dienende Außenminister der Welt.

Der Aufstieg Gromykos zur Präsidentschaft gibt diesem die formale Autorität, mit westlichen Führern auf gleicher Ebene zusammenzutreffen — darunter auch mit dem Herrn im Weißen Haus. Gromyko ist von der alten Kreml-Garde der einzige, der Gorbatschow gegenüber unbedingte Loyalität bewies. Er hat Gorbatschow nach Tschernenkos Tod als neuen Parteiführer vorgestellt und vorher dessen Promotion im Politbüro durchgesetzt,

Gromyko als Staatschef heißt nicht, daß der neue Kremlherr seinen Einfluß auf die Außenpolitik aufgibt, einem anderen überträgt. Gorbatschow zeigt in seiner Entscheidung, den harten Konstrukteur sowjetischer Außenpolitik auf den größten Ehrenposten, den das östliche Reich zu vergeben hat, zu setzen, sein Format als moderner Staatsmann. Gleichzeitig erhält Gorbatschow den Weg frei, das Außenministerium mit einem Politiker seiner Wahl zu besetzen.

Doch vorläufig konzentriert sich der Kremlchef im Vorfeld zum nächsten Parteikongreß nächsten Februar auf die Innen-und Wirtschaftspolitik. Der neue Mann im Außenamt, Eduard Schewardnadse, wird wohl noch einige Zeit von Gromyko dirigiert werden.

Michael Gorbatschow ist in sowjetischer Geschichte der einzige Parteiführer, der von seinem Vorgänger zum Erben der Macht eingesetzt worden war. Das gilt allerdings mehr noch für Andropow als für Tschernenko.

Andropows Tod führte zu einer Konstellation in der Parteispitze, die keinem der beiden Prätendenten, Gorbatschow und Romanow, einen eindeutigen Vorrang über den Konkurrenten bescherte. Also wurde ein dritter, Konstantin Tschernenko, als Ubergang mit der Führung betraut. Nach dessen Tod hatte sich die Balance zugunsten von Gorbatschow verschoben, ohne daß Romanow deshalb schon völlig aus dem Rennen gefallen wäre.

Wie ein vom Kreml dem Publikum freigegebener Film beweist und wie die Reden Gorbatschows belegen, fühlt sich der neue Kremlherr als Erbe Andropows. Diesem, nicht dem unmittelbaren Vorgänger gilt Gorbatschows Huldigung, sondern Andropow — und damit der allmächtigen Organisation, die von diesem dereinst geleitet worden war.

Gorbatschows unmittelbares Reformprogramm ist eine nahtlose Fortsetzung der aus zeitlichen Gründen uneingelösten Vorhaben Andropows. Parteiapparat und KGB sind jene beiden Machtsäulen im Sowjetstaate, auf die sich

Gorbatschow stützt. Als Gegenleistung sitzen nun zwei Männer des Sicherheitsdienstes im Politbüro: Gajdar Aliew und der KGB-Chef Wiktor Tschebrikow, die Generäle dagegen wurden gewissermaßen im Vorzimmer gelassen.

Der als Falke geltende Romanow dürfte von den Streitkräften favorisiert worden sein. Als Verteidigungsminister Dimitrij Usti-now im letzten Jahr das Zeitliche gesegnet hat, war Romanow als Nachfolger im Gespräch. Schließlich wurde ein Berufsmilitär, Marschall Sergej Sokolow, Minister und später Kandidat zum Politbüro. Romanow blieb, für die Verteidigungsindustrie im Sekretariat verantwortlich, in der übergeordneten Position.

Der Sturz Romanows, 13 Jahre lang Parteiführer in Leningrad, beweist, daß die Stadt Peters des Großen aus Tradition nicht die beste Machtbasis für das höchste Amt darstellt. Dort hatte sich Romanow als schonungsloser, aber erfolgreicher Reorganisator der vornehmlich in den Dienst des militärischen Sektors gestellten Industrie erwiesen, freilich auch als ein Mann harten Durchgreifens gegen ideologische Abweichung und Dissidententum.

Der Herr der zweiten Sowjetmetropole tat sein Bestes, um sich als künftiger Kremlchef zu etablieren. Er reiste nach Äthiopien, um sich als internationaler Experte ins Gedächtnis einzuprägen.

Gorbatschow hatte nicht nur die bessere Personalpolitik für sich, er setzte auch die Gerüchtemühle gezielt ein, um den Kontrahenten auszubooten: Romanow der Trunkenbold, zuletzt Teilnehmer einer Entziehungskur.

Die alte Geschichte von der Hochzeit von Romanows Tochter, schon unter Breschnew lanciert, wurde letztlich wieder aufgewärmt. Damals, Ende der siebziger Jahre, soll Romanow wertvolles Porzellan der anderen Romanows, der Zaren, zum feierlichen Anlaß der Eremitage entliehen, aber nur Scherben zurückgesandt haben. Die Affäre Romanows mit einer Sängerin erhielt größte Publicity, um den Anspruch Romanows auf die Spitze zu unterminieren.

Der neue Mann im Politbüro und nunmehr Außenminister, Eduard Schewardnadse, ist im eigentlichen Sinne kein Vertrauter Gorbatschows, wurde er doch 1972 von Breschnew nach dem wegen Korruption in gigantischem Ausmaß entlassenen Mschawanadse mit der Parteileitung Georgiens betraut.

Das nunmehr erste georgische Politbüromitglied nach Berija (1953 erschossen) hat den Augiasstall Georgien gründlich von Bestechung und Schwarzhandel ausgemistet, soweit dies in der märchenhaften kaukasischen Republik überhaupt möglich ist. Dies und erfolgreiche Umgestaltung der Wirtschaft machen Schewardnadse, eine hochgebildete Persönlichkeit mit exzellenten Umgangsformen, von vorneherein für Gorbatschow attraktiv.

In der Außenpolitik fehlt dem Georgier jedoch jegliche Erfahrung. Von einem Wienbesuch abgesehen, ist Schewardnadse offiziell nicht im Ausland gewesen. Seine unbedingte Loyalität macht ihn zum ergebenen Befehlsempfänger des Kremls, gleich, ob die Order nun von Gromyko oder von Gorbatschow kommt. Eine neue Außenpolitik Moskaus wird es mit Sicherheit nicht geben.

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