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Gorbatschows Balanceakt

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Michail Gorbatschow hat es wieder einmal geschafft und sich mit seinem Entwurf eines neuen Programms der KPdSU vorläufig durchgesetzt. Allerdings ist der Widerstand der Orthodoxen, denen die Abkehr vom Kommunismus zu weit geht, noch nicht gebrochen, und die Bewährungsprobe bis zum Parteitag ist nur aufgeschoben.

Auf der anderen Seite geht der Vorstoß Gorbatschows den echten Reformern zu wenig weit, es ist ein alarmierendes Symptom für die Abwendung dieser wachsenden Gruppe von Gorbatschow, daß sich einer der engsten bisherigen Berater, Alexander Jakowlew, aus dem Team um Gorbatschow zurückgezogen hat.

Gorbatschow mag mit dieser Taktik - die einen nicht ganz zu vergrämen und die anderen bei' weitem nicht zufriedenzustellen -innenpolitisch richtig agieren und noch geraume Zeit obsiegen. Es ist jedoch die Frage, ob dieses Lavieren zwischen Altkommunisten und konsequenten Demokraten noch der historischen Situation, in der sich die Sowjetunion befindet, angemessen und nicht längst unzureichend ist.

Es scheint, daß Gorbatschow, dessen Programm inhaltlich weitgehend als sozialdemokratisch qualifiziert werden kann, auch die Untugenden der Sozialdemokratie, so die austro-marxi-stische Halbheit und Halbherzigkeit übernimmt und so das ganze

Unternehmen, dem er vorsteht, zum Scheitern verurteilt.

Gorbatschow, der trotz aller Abstriche an Lenin und an dem Symbol Leningrad festhalten will, nimmt noch zu viel Rücksicht auf die Gefühle und Interessen des Parteiapparates, dem Jelzin in Rußland selbst den Kampf angesagt hat. Doch vielleicht handelt es sich nicht nur um Rücksichtnahme auf fremde Interessen und Gefühle, sondern auch auf eigene. Gorbatschow ist trotz allem eine Ausgeburt des Apparates der Partei, von dem er sich nicht ganz emanzipieren, den er nicht vollends vor den Kopf stoßen kann.

Schon gar nicht kann sich Gorbatschow zu der Erkenntnis und dem Eingeständnis durchringen, daß der ganze von Lenin 1917 beschrittene und einem rückständigen Land aufgezwungene Weg ein Irrweg, eine Überforderung und ein Abenteuer war, für das Generationen zu büßen hatten, ohne daß diese Opfer durch einen schlußendlichen Erfolg gerechtfertigt erscheinen. Ganz im Gegenteil: es drängt sich mehr denn je die Frage auf, wofür all diese Opfer gebracht wurden, wenn am Ende nicht ein Erfolg, sondern ein eklatanter Mißerfolg steht.

Das alles ändert nichts an der historischen Leistung Gorbatschows, läßt aber wohl die Grenzen dessen erkennen, was er für die Zukunft der Sowjetunion • noch zu bewirken vermag.

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