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Gorki und die Folgen

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Über die Zustände und das Schicksal der politischen Gefangenen in der Sowjetunion sind in einem halben Jahrhundert ungezählte Berichte und Bücher veröffentlicht worden. Daß einem bis zu seinem ersten Buch völlig unbekannten Autor mehr Glaubwürdigkeit als vielen anderen zugestanden wurde, war nicht nur auf seine epische Gestaltungskraft zurückzuführen, mit der er den infernalischen Alltag der Strafarbeitslager schilderte. Als einer von 50 Millionen Häftlingen vermochte er die Totalität des Lagerlebens politisch, psychologisch und philosophisch so scharfsinnig zu analysieren, daß erst dadurch die bis dahin unverständlich gebliebenen Zusammenhänge und Methoden eines Terrors deutlich wurden.

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Über die Zustände und das Schicksal der politischen Gefangenen in der Sowjetunion sind in einem halben Jahrhundert ungezählte Berichte und Bücher veröffentlicht worden. Daß einem bis zu seinem ersten Buch völlig unbekannten Autor mehr Glaubwürdigkeit als vielen anderen zugestanden wurde, war nicht nur auf seine epische Gestaltungskraft zurückzuführen, mit der er den infernalischen Alltag der Strafarbeitslager schilderte. Als einer von 50 Millionen Häftlingen vermochte er die Totalität des Lagerlebens politisch, psychologisch und philosophisch so scharfsinnig zu analysieren, daß erst dadurch die bis dahin unverständlich gebliebenen Zusammenhänge und Methoden eines Terrors deutlich wurden.

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Für den fünfzehn Jahre durch Krieg, Lager und Verbannung aus dem normalen Leben ausgeschlossenen Alexander Solschenizyn war das Straflager zum menschlichen und politischen Urerlebnis geworden. „Ich habe dort lange genug gesessen, ich habe dort meine Seele großgezogen“, heißt es im Vorwort zum zweiten Band des „Archipel GULAG“, des Lager-Inselreiches. Und im Satz vorher: „Selbst in einem vom Bösen besetzten Herzen hält sich ein Brük-kenkopf des Guten. Selbst im gütigsten Herzen — ein uneinnehmbarer Schlupfwinkel des Bösen.“ In dieser Sprache maß Solschenizyn, der Mathematiker, das „GULAG“-System nach. Die Glaubwürdigkeit blieb ihm auch weiterhin erhalten, weil der in seiner Heimat Verfehmte aus seinen Büchern ins gefährliche Leben trat und so die Wahrhaftigkeit des Berichtes bewies.

Im ersten Band ging es gewissermaßen um die „Vorhölle“, die Untersuchungsgefängnisse und Geständniserpressung, um die Gefangenentransporte zu den „Insem“ des „Archipels“. Der zweite Band führt uns in die Straflager selbst, wie AMretfch in.'“>denf''-icwanzigeri:'. dreißiger -Jahren vermehrten und ' zum System, zum Pfeiler des Terrors auswuchsen. Im ersten Band machte Solschenizyn nicht nur Stalin, sondern auch schon Lenin für den kommunistischen Terror mit all seinen wahnhaften, schrecklichen Zügen verantwortlich. Lenin hatte schon 1918 zur „Säuberung der russischen Erde von allem Ungeziefer“ aufgerufen. Er war es auch, der dem Dichter Gorki gelegentlich den Rat gab, sich nicht „durch das Gewinsel verrotteter Intellektueller beirren zu lassen“. Mit welchen Folgen, steht bei Solschenizyn.

Die Solowezki-Inseln im Weißen Meer, deren berühmtes Kloster bereits 1923 in einen Verbannungsort umgewandelt wurde, galten als ausgesprochenes Ausrottungslager. Ein halbes Jahr liegt das Meer unter Eis; nagende Kälte, Nebel, Finsternis, Schneestürme kennzeichnen das Klima. Von den zahlreichen Ausbruchsversuchen glückte einem Draufgänger die Flucht bis nach England. Dort erschien 1926 das

Buch An Island Hell, das viel Aufsehen erregte. Empört wies man von sowjetischer Seite die „Hetze“ zurück. Um schließlich die „niederträchtigen ausländischen Falschmeldungen“ zu entkräften, entsandte man den gerade aus Amerika heimgekehrten Maxim Gorki — bekannt als „Gewissen der Revolution“ und als großer Humanist — hinter den Polarkreis. Im Juni 1929 besuchte $W b^ühn^;.pi«ht^l,,geleii«t1Ivon Spitzen der GPU, die Lager. Alles war nach traditionellem Muster der Potemkinschen Dörfer auf das trefflichste organisiert und wäre gut verlaufen, hätte sich nicht ein Vierzehnjähriger in der Kinderkolonie vorgedrängt: „ Hör zu, Gorki! Was du siehst, ist alles Lüge! Willst du die Wahrheit wissen?“ Nach anderthalb Stunden verließ der Greis tränenüberströmt die Baracke, wo man ihn mit dem Jungen allein gelassen hatte. In das Gästebuch schrieb Gorki nachher: „Ich fühle mich außerstande, meine Eindrücke in wenige Worte zu fassen ... Worte für die erstaunliche Energie von Menschen zu verwenden, die als unermüdliche und wachsame Beschützer der Revolution gleichzeitig auch . wunderbar mutige Schöpfer der Kultur zu sein vermögen.“ Tags darauf fuhr Gorki ab. Das Schiff war außer Sicht, als der Vierzehnjährige erschossen wurde.

Gorki soll nicht gleich bereit gewesen sein, die Worte zum Lobe der Solowezker Lagerverwaltung niederzuschreiben, und tat es erst nach gewissen Vorhaltungen. Sie wurden in der in- und ausländischen Presse ab- und nachgedruckt, bemerkt Solschenizyn bitter, denn das „Haupt der Literatur“ hatte es belegt, wie sehr sich „die Häftlinge dort eines herrlichen Lebens samt einer herrlichen Erziehung erfreuten“. Aber es gab noch weit Schlimmeres als das Solowezker Lager.

Das erste große Bauvorhaben des Archipels, die Verbindung der Ost-Jäee roi£ dem Wei^n^gB^r^ mußte über Weisung des Diktators in kürzester Frist und mit billigsten Mitteln durchgeführt werden. Also schuftete ein Heer von Häftlingen ohne moderne Technik, nur mit Spaten und Spitzhacken und im Licht von Petroleumlaternen (alle Dämme aus Erde aufgeschüttet, alle Schleusen aus Holz gezimmert). „Die von allen Winden durchwehten Baracken und Zelte reichen nicht für alle, man schläft im Schnee, nitschewo, wir schaffen's!“ Rund 180.000 sollen dabei umgekommen sein. Im August 1933 besichtigten

120 Schriftsteller den Kanalbau und waren des Lobes voll. Begeistert erzählten sie von ihren Reiseerlebnissen, entwarfen „die verlockenden, beinahe phantastischen und zugleich reellen Perspektiven der Entwicklung dieses Landstriches“, überstürzten sich förmlich mit ihren Berichten über die fortschrittliche Technik.

Im August 1933 erschien im Staatsverlag ein Prachtband mit dem Titel „Der Weißmeer-Ostsee-Kanal namens Stalin“. Unter der Chefredaktion von Maxim Gorki hatten 36 Schriftsteller ein Kollektivwerk verfaßt, unter ihnen berühmte Namen der russischen Literatur. Neben Gorki u. a.: Viktor Schklowski, Wsewolod Iwanow, Vera Inber, Valentin Katajew, Michail Soschtschenko, A. Tichonow, Alexej Tolsioj. Der Dramatiker Nikolai Pogodin schrieb nach dem Besuch der Baustellen am Weißmeer-Kanal die Komödie „Aristokraten“ — über die „Umerziehung krimineller Elemente in der sozialistischen Gesellschaft“.

Die Notwendigkeit des Kollektivwerkes für die Häftlinge des Kanalbaues begründete Gorki damit, daß den Arbeitern die Worte fehlten, um den „komplizierten Gefühlen der Umerziehung Ausdruck zu verleihen“, da helfe eben der Schriftsteller mit seinem Wortschatz aus. Die Schriftsteller wieder hätten durch die Besichtigung des Kanals „... eine Aufmunterung erfahren, die sich höchst positiv auf die Arbeit auswirken werde“. Dieser Auftrieb in der Literatur werde sich als der „großen Taten ebenbürtig erweisen“. Es ist ja „menschlicher Rohstoff um vieles schwerer zu bearbeiten als Holz“, bemerkte Gorki tiefsinnig hinsichtlich der Umerziehung der Häftlinge, und zwar gerade an der Stelle, wo er gegen das „humanistische Geschwätz“ loszieht,

„Genug gelogen, ihr käuflichen Schreiberlinge!“ ruft Solschenizyn zornig aus. Sein Archipel GULAG ist ein wichtiges Werk, das in zwei

Bänden auf 1220 Seiten nicht nur sowjetische Verhältnisse anprangert, sondern für den Menschen schlechthin spricht. Vorwürfen, wozu er denn „in alten Wunden rühre“, antwortet er mit den Worten von Leo Tolstoj: „Wenn ich eine schlimme Krankheit hinter mir habe und davon geheilt und gereinigt worden bin, werde ich mich stets mit Freuden daran erinnern und nur dann nicht zurückdenken wollen, wenn die Krankheit noch in mir sitzt und schlimmer wird, und ich mich selbst betrügen möchte.“

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