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Gott kam nicht zu den Gerechten...

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FURCHE: Sie haben als Klosterschwester den Namen „Emmanuel' le" gewählt. Bedeutet der Name bereits ein Programm für Sie?

SCHWESTER EMMANUELLE: Selbstverständlich! Diese Stelle im Alten Testament bei Jesaja, wo es heißt: die Jungfrau wird ihren Sohn Emanuel • Gott mit uns • nennen, ist ein Programm. Und wenn jemand zu mir sagt: „Schwester Emmanuelle, was sie tun ist wunderbar", sage ich, das ist ein Witz - nicht ich bin wunderbar, Gott in mir, Gott in uns allen, ist wunderbar.

FURCHE: Im Grunde sind Sie doch sehr intellektuell, Sie unterrichteten Philosophie und Theologie. Wie war es möglich, daß Sie 62jährig diesen Beruf mit dem Dasein einer Lumpenhändlerin vertauschten?

EMMANUELLE: Was soll ich Ihnen sagen, mein Lebenstraum, für die Aussätzigen zu leben, hat mich geleitet. Der Nuntius von Kairo teilte mir mit, ich könne nicht zu den Lepra-kranken gehen, da sich deren Krankenhaus in einer Militärzone befand. Als er mich fragte: „Wollen Sie nicht stattdessen ins Elendsviertel der Lumpenhändler gehen?", habe ich seinen Vorschlag natürlich angenommen.

Es war grauenhaft zu sehen, wie Hunderte von Kinder inmitten von Müllbergen lebten. Ihre Eltern fahren täglich nach Kairo, um von dort den Müll abzuholen. Es gibt keine städtische Müllabfuhr. Der Müll liegt überall, man watet darin. Die Lumpenhändler leben in Hütten ohne Wasser, ohne Strom. Dorthin kamen weder Ärzte noch Krankenschwestern. Es gab keine Schulen, keine Kirche. Einfach nichts - für die unzähligen, bejammernswerten Kinder. Dies alles schockierte mich zutiefst. Ich empfand, daß ich von Christus selbst gerufen worden war, er sagte zu mir: „Willst du dein Leben mit ihnen teilen?" Ich konnte nicht nein sagen.

FURCHE: Könnte man Ihr Erlebnis mit der tiefen Gotteserfahrung Pascals vergleichen, der einen Zettel in seine Jacke eingenäht hatte, auf dem stand: „Nicht der Gott der Phi-

losophen, sondern der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs..."

EMMANUELLE; Für mich ist Pascal einer der Schriftsteller, die ich am meisten Hebe. Ich wiederhole diesen Satz oft. Auch ich werde oft von Zweifeln geplagt. Und ich habe bei den Philosophen und Weisen nach Antwort gesucht. Ich bin Beweisen für die christliche Religion nachgegangen. Aber ich habe nirgends eine befriedigende Antwort gefunden.

Dank der Chiffoniers, der Lumpenhändler, die nicht einmal des Lesens kundig waren, habe ich verstanden, daß Gott kein Gott der Philosophen ist. Man findet ihn in der Bibel bei Abraham, Jakob, Isaak. Unzählige Male habe ich über Abraham in der Genesis gelesen. Er ist für mich zu einem Leitbild geworden. Ich bin mit den tiefen Einsichten Pascals völlig einig.

FURCHE: Sie teilen alles mit Ihren Mitmenschen. Warumdenken Sie,daß es für die meisten Menschen so unendlich schwierig ist, der scheinbar so einfachen Aufforderung der völligen Hingabe zu folgen?

EMMANUELLE: Ich denke, daß es sehr viele Menschen gibt, die diese Hingabe an Christus leben. Die Tatsache, daß ich in völliger Armut in einer Baracke, ohne Wasser und Licht, mit Ratten und Ungeziefer lebe.versetzt die Leute in Staunen. Aber es ist nicht notwendig, in einer Hütte zu leben, um Christus nachzufolgen. Ich habe in der ganzen Welt Männer, Frauen und auch junge Menschen getroffen, die bereit waren zu teilen. Es gibt viele Christen, die weiter in ihren schönen Wohnungen leben, die aber trotzdem ihre Besitz anderen zugute kommen lassen. Die sich für andere Menschen in schwierigen Lebensumständen einsetzen und von denen meine Arbeit großzügig unterstützt wird.

Dies sind Gewissensfrageri, die nur den einzelnen und Gott etwas angehen, und niemand hat das Recht, sich da hineinzumischen. Man soll glücklich sein, man soll singend mit Gott und einem freudigen Herzen leben. Und dann Schritt für Schritt mag es gelingen, daß man immer mehr in der Lage zu teilen ist.

FURCHE: Was halten Sie von der Befreiungstheologie? Man hat Mutter Teresa vorgeworfen, sie würde die Verwundeten pflegen, statt sich mehr für die Veränderung der ungerechten Strukturen einzusetzen?

EMMANUELLE: Ungerechte Strukturen zu verhindern, scheint mir nicht Aufgabe einer Nonne zu sein. Das betrifft die Politiker. Mutter Teresa ist eine lebendige Fackel, die der gesamten Welt die ungerechten Zustände zum Bewußtsein bringt. Die Befreiungstheologie wurde vom Va-

tikan anerkannt, als christliche Weise gegen Ungerechtigkeiten zu kämpfen. Ich denke, jeder Mensch hat die Verantwortung, sich an dem Platz, an dem er lebt, für mehr Gerechtigkeit einzusetzen. Wenn ich mich anläßlich meiner Vorträge mit jungen Menschen unterhalte, fordere ich sie auf, mit ihren Studien fortzufahren, Diplome zu machen, um Experten auf internationaler Ebene zu werden. Damit sie zum Beispiel in den Nord-Süd-Dialog ein größeres Maß Gerechtigkeit einbringen können. Aber ich denke mir nicht, daß die Politik die Aufgabe einer kleinen Nonne ist.

FURCHE: Die Menschen im Müll versinnbildlichen den Abschaum der menschlichen Gesellschaft, die Un-berührbaren. Sie aber sagen, Sie sei-

en von diesen Menschen „evangeli-siert" worden. Wie ist das möglich?

EMMANUELLE: Das stimmt. Als ich in das Elendsviertel zog, sagte man mir voraus, ich würde sicher ermordet werden. Ich bin aufgebrochen, um die armen Lumpenhändler zu evangelisieren - sie zum Christentum zu bekehren. Aber stattdessen hat sich ein außergewöhnliches Phänomen ereignet: Diese Ausgestoßenen, Diebe und Mörder haben mich evangelisiert. Sie haben mich gelehrt, das Angesicht Christi besser zu verstehen. Christus hat gesagt: „Ich bin nicht zu den Gerechten gekommen." Und wenn ich mich als gerecht dünke, dann ist der Herr nicht für mich gekommen. Denn er ist ja für die Armen, die Kranken und die Sünder gekommen. Seit ich mit den Chiffoniers lebe und mit ihnen bete, habe ich das Evangelium viel besser begriffen.

Abends rufen sie mich manchmal in ihre Hütten und wir sitzen einfach beieinander. Ich erinnere mich an einenjungen Chiffonier, der bei einem solchen Gebetsabend ausgerufen hat: „Mein Gott, ich bin ein Sünder." Dabei ließ er seine Schultern sinken, und dann fügte er hinzu. „Mein Gott, hab Erbarmen mit mir." Es war erschütternd. Er schrie es hinaus. Ich habe verstanden, dieser Mann ist von Gott geliebt. Und wissen Sie, warum: Als er sagte: „Ich bin ein Sünder" - kam dies aus der Tiefe seines Herzens. Ich bete jeden Tag meinen Rosenkranz, ich habe hunderttausende Male gesagt: „Bitte für uns arme Sünder." Aber habe ich es ein einziges Mal mit solcher Inbrust gesprochen?

FURCHE: Sie haben einen großen Teil Ihres Lebens in Ländern des Islam verbracht. Gibt es einen echten Dialog mit anderen Religionen?

EMMANUELLE: Ich habe überall Freunde - in katholischen, protestantischen, orthodoxen, jüdischen, muslimischen, kommunistischen, sozialistischen, atheistischen Kreisen, und ich habe besonders viele muslimische Freunde. Es sind Männer und Frauen, die nicht fanatisch sind. Sie respektieren meine Religion und ich die ihre. Ich habe eine sehr schöne und freundschaftliche Beziehung zum Islam. Ich bin natürlich nicht mit den Fanatikern einverstanden, aber ich denke, durch Freundlichkeit kann ich ihre Intoleranz abbauen.

FURCHE: Als ich Sie zum erste Mal sprechen hörte, sagte ich mir, diese Frau ist wie Dynamit. Woher nehmen Sie diese erstaunliche Kraft?

EMMANUELLE: Seit meinem zwölften Lebensjahr habe ich kaum je die Eucharistiefeier versäumt. Seit 70 Jahren habe ich also aus der Kommunion Kraft, Liebe und Freude empfangen, - und auch die Fähigkeit das Leid mit den anderen zu teilen. Gott ist stärker als der Tod und der Schmerz, und je mehr wir uns auf ihn verlassen, umso mehr sind wir siegreich. Christus ist auferstanden und wir mit ihm. Im Herzen muß man ein Kind Gottes sein und die anderen Menschen zu seinen Geschwistern machen.

In einer völlig vertechnisierten Welt wird Gott für die Jugend bereits im Schulsystem und an den Universitäten zum großen Abwesenden gemacht. Man braucht Gott nicht. Für die Befriedigung materieller Bedürfnisse scheint er überflüssig zu sein. Aber der Mensch wird eine Dimension seines Wesens verfehlen, wenn er nicht in eine persönliche Beziehung zu Gott tritt, Gott, der unser Vater voller Liebe ist, der uns trägt.

Das Gespräch führte Felizitas von Schönbom.

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