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Gottes Spion in Auschwitz

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Das Burgtheater spielt Hochhuths „Stellvertreter“ als erste österreichische Bühne seit der Erstaufführung-im Volkstheater im Jänner 1964. Siehe auch Seite 17!

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Das Burgtheater spielt Hochhuths „Stellvertreter“ als erste österreichische Bühne seit der Erstaufführung-im Volkstheater im Jänner 1964. Siehe auch Seite 17!

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Ein Mann namens Kurt Gerstein, der in die SS eingetreten war, um Näheres über deren Massenmorde zu erfahren und etwas dagegen zu tun, wurde nach dem Krieg posthum in die Kategorie der Belasteten eingereiht. Seiner Witwe wurde die Hinterbliebenenrente verweigert, welche die Witwe des Reinhard Heydrich, eines führenden Mannes in der Nazi-Mordmaschine, anstandslos bekam.

Die Lieferanten der zum Massenmord verwendeten Blausäure aber wurden mit der Begründung freigesprochen, Ger stein habe ja den Massenmord sabotiert.

„Der Stellvertreter“, das einst so umkämpfte Stück, ist keineswegs nur eine Attacke gegen Pius XII. und die vatikanische Politik gegenüber Hitler. Es ist auch ein Denkmal für Kurt Gerstein. Hochhuth räumt ihm die zentrale Stellung ein, die dem, der nur seinem Gewissen folgte, gebührt. Gerstein war ein aktiv handelndes deutsches Gegenstück zum Österreicher Franz Jägerstätter.

Die Szene, in der er von entsetzlichen Bildern gepeinigt in die Nuntiatur stürmt, sich als SS-Führer zu erkennen gibt, die Welt alarmieren, dem Nuntius sagen will, was in Auschwitz geschieht und hinauskomplimentiert wird, ist historisch.

Er ist der einzige geblieben, der so handelte. Daß abgesehen von Gerstein kein an der Ausrottung der Juden beteiligter SS-Mann von diesen Bildern oder seinem Gewissen gepeinigt den Versuch unternahm, Alarm zu schlagen, Nachricht ins Ausland oder in die deutsche Öffentlichkeit gelangen zu lassen, und koste es das Leben, gehört zu den Unbegreiflichkeiten jener Zeit.

Viele redeten sich später darauf aus, daß das doch gefährlich gewesen wäre. Ein seltsames Argument angesichts des weitverbreiteten „Heldentums“ an der Front, auf das sich oft dieselben Leute soviel zugute hielten.

Kurt Gerstein wäre heute ein zweiundachtzigjähriger Zeitzeuge. Er wurde am 11. August 1905 als Kind eines Oberlandesgerichtspräsidenten geboren, war wie der Vater national gesinnt, nahm wie der Vater die Weimarer .Republik nicht ernst und unterschied sich von seinen Familienmitgliedern nur durch eine tiefe Religiosität und strenge sittliche Grundhaltung.

Wie die in München hingerichteten Geschwister Scholl war auch Gerstein zunächst von den idealistischen Reden der Nazis angetan. Er trat in die NSDAP ein, machte als tüchtiger Ingenieur von 1933 bis 1936 beim Bergamt von Saarbrücken Karriere — und geriet unausweichlich in Konflikt mit dem Regime.

Eines Tages erschienen die forsch auftretenden Zivilisten in Ledermänteln, die sich als „Geheime Staatspolizei“ vorstellten, auch bei ihm. Sie fanden Rundschreiben der „Bekennenden Kirche“ und andere „aufrührerische Schriften“. Gerstein wurde vorübergehend festgenommen, aus der Partei ausgestoßen, entlassen, begann Theologie und später Medizin zu studieren, heiratete, saß noch einmal und erreichte schließlich, daß seine Ausstoßung aus der NSDAP vom Parteigericht in eine „Verabschiedung“ umgewandelt wurde und er — in einem privaten Grubenunternehmen — wieder in seinem Beruf arbeiten durfte.

Und dann entschloß er sich, in die „Höhle des Löwen“ einzudringen. Die „Höhle des Löwen“ war die SS. Die „Endlösung“ war noch nicht beschlossen. Ger stein wollte den Gerüchten über die Tötung der Geisteskranken auf den Grund gehen. Eine Schwägerin war diesem ersten konsequent durchgeführten Massenmord der Nazis zum Opfer gefallen. Der Parteiausschluß stand seinem Plan nicht im Wege — Partei und SS waren zeitweise nicht gut aufeinander zu sprechen. Uber seine Gesinnung zu diesem Zeitpunkt gibt es keinen Zweifel. Gerstein war ein kompromißloser Gegner des Regimes.

Kirchenrat Otto Wehr warnte ihn dringend, „in das Lager der dämonischen Mächte hineinzugehen“. Mehrere Zeugen bekundeten nach dem Krieg, daß er nicht nur die volle Tragweite seiner Handlungsweise kannte, sondern auch das persönliche Risiko sehr genau abzuschätzen wußte. Pastor Niemöller über Kurt Gerstein: „Nach meiner festen Uberzeugung ist er ein Opfer seiner konsequenten gegnerischen Haltung geworden.“

Als Gerstein es geschafft hatte, in den inneren Kreis der Mitwisser vorzudringen, kam er gerade„:^' zurecht, bei der „Endlösung“ mitzuhelfen. Er bekam eine seiner Ausbildung entsprechende Aufgabe, nämlich, bei der Organisierung der Blausäure-Lieferungen für Auschwitz tätig zu werden.

Eine an „Herrn Obersturmführer Kurt Gerstein, Berlin“ adressierte Rechnung der Firma De-gesch, Frankfurt am Main, die den Krieg überlebte, trägt deutlich den Hinweis, daß die in 14 Kisten verpackten Büchsen mit insgesamt 210 Kilogramm hochkonzentriertem Gift auf den Etiketten den Hinweis tragen: „Vorsicht, ohne Warnstoff!“ Die Opfer sollten ja bis zuletzt nichts ahnen. Folgsam lieferte die Firma Blausäure ohne das Reizmittel, das Unfälle bei der Schädlingsbekämpfung verhindern soll. Nicht nur die Menge des Giftes, vor allem die Weglassung des Warnstoffes stempelt die nach dem Krieg vorgebrachte Behauptung, man habe ja nicht wissen können, wozu die Blausäure bestimmt war, zur Ausrede.

Während Gersteins Wohnung in Berlin - wie nach dem Krieg etwa der Bundestagspräsident Hermann Ehlers oder Domkapitular Prälat Buchholz berichteten - zu einer Zentrale der Nazigegner wurde, verbrachte er seine Tage in SS-Uniform damit, die Lieferungen des Giftgases „Zyklon B“ zu sabotieren, wo er konnte, einmal einen Waggon mit Blausäure auf einem Abstellgleis in Vergessenheit geraten zu lassen, ein andermal eine ganze Sendung als „verdorben“ zu deklarieren. In Auschwitz wurde er selbst Augenzeuge des Massenmordes.

Er mußte die Erfahrung machen, daß es viel leichter gewesen war, festzustellen, was in Auschwitz vorging, als die Welt mit diesem Wissen zu alarmieren. Nachdem er aus der Nuntiatur hinausgeworfen worden war, versuchte er über bischöfliche Stellen, seine Bitte, öffentlich gegen den Mord an den Juden zu protestieren, an den Papst heranzutragen, bat den Ersten Sekretär der Schwedischen Botschaft, Baron von Otter, den er im Schlafwagen kennenlernte, er möge diese Bitte seiner Regierung zukommen lassen, versorgte die holländische Widerstandsbewegung mit Informationen über Auschwitz. Vergebens, „die Welt“ erfuhr alles erst hinterher. Kein britischer oder amerikanischer Bomber hat je versucht, die Gaskammern zu zerstören und damit den Massenmord zu verzögern. Aber „die Welt“ wußte „Gottes Spion in Auschwitz“ auch nach dem Krieg keinen Dank.

Er stellte sich der französischen Besatzungsmacht als Zeuge zur Verfügung, wurde in das Pariser Kriegsverbrechergefängnis „Du Cherche-Midi“ eingeliefert und konnte gerade noch alles, was er wußte, zu Papier bringen. Man sperrte ihn mit anderen SS-Leuten in eine Zelle, wo er am 25. Juli 1945 angeblich Selbstmord beging —

wogegen alles spricht. Hingegen spricht alles dafür, daß seine Zellengenossen den „Verräter“ um die Ecke gebracht haben. Es war. Wahnsinn, ihn mit ihnen zusammenzusperren.

Die Akten über seinen Tod sind verschwunden. Seine angeblichen Abschiedsbriefe hat niemand zu Gesicht bekommen. Das Grab, in dem er am 2. August 1945 unter dem falschen Namen „Gastein“ beigesetzt wurde, existiert nicht mehr. Die Tübinger Entnazifizierungskammer, die ihn als Belasteten einstufte, verriet mit ihrer Begründung, wes Geistes Kind sie war: „Daß er als Einzelgänger die Vernichtung nicht verhindern und auch keine Menschenleben ... retten konnte, hätte ihm nach dem Gesehenen klar sein sollen.“

Im Klartext: Wer zusieht, wie seine Mitmenschen umgebracht werden, ist ein braver Bürger. Wer hingeht, um ihnen in den Arm zu fallen, gehört zu den Mördern.

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