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Grandios und dekorativ

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Die folgenden Betrachtungen Furtwänglers stammen vermutlich aus dem Jahr 1916 oder 1917, allenfalls ist dies der terminus post quem non. Sie wurden uns von der Witwe des großen Dirigenten, Frau Elisabeth Furtwängler, zur Verfügung gestellt, die am Genfersee lebt — in jener Landschaft, die Furtwängler die liebste war — und die schon seit vielen Jahren eine aufmerksame Leserin der „Furche“ ist. Diese Studie, die bisher weder in einer Zeitung noch in Buchform veröffentlicht wurde, ist deshalb von besonderem Interesse, weil gegenwärtig eine Schallplattenkassette mit dem „Ring des Nibelungen“ vorbereitet wird, die im Herbst 1972 erscheinen soll. Es handelt sich dabei um Tonbandaufnahmen der RAI, Rom, die im Jahr 1953 unter Furtwänglers Leitung gemacht wurden. Im Großen Sendesaal auf dem Foro Italico wurde, vor geladenen Gästen, jeweils ein Akt gespielt und aufgenommen. Diese Plattenserie ist das Resultat einer lebenslangen Beschäftigung mit dem Werk Wagners. In den folgenden Aufzeichnungen spiegelt sich eine erste zusammenfassende kritische Auseinandersetzung mit der Tetralogie. F.

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Die folgenden Betrachtungen Furtwänglers stammen vermutlich aus dem Jahr 1916 oder 1917, allenfalls ist dies der terminus post quem non. Sie wurden uns von der Witwe des großen Dirigenten, Frau Elisabeth Furtwängler, zur Verfügung gestellt, die am Genfersee lebt — in jener Landschaft, die Furtwängler die liebste war — und die schon seit vielen Jahren eine aufmerksame Leserin der „Furche“ ist. Diese Studie, die bisher weder in einer Zeitung noch in Buchform veröffentlicht wurde, ist deshalb von besonderem Interesse, weil gegenwärtig eine Schallplattenkassette mit dem „Ring des Nibelungen“ vorbereitet wird, die im Herbst 1972 erscheinen soll. Es handelt sich dabei um Tonbandaufnahmen der RAI, Rom, die im Jahr 1953 unter Furtwänglers Leitung gemacht wurden. Im Großen Sendesaal auf dem Foro Italico wurde, vor geladenen Gästen, jeweils ein Akt gespielt und aufgenommen. Diese Plattenserie ist das Resultat einer lebenslangen Beschäftigung mit dem Werk Wagners. In den folgenden Aufzeichnungen spiegelt sich eine erste zusammenfassende kritische Auseinandersetzung mit der Tetralogie. F.

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Der „Ring des Nibelungen“ ist und bleibt Wagners umstrittenstes Werk. Es errang nicht die unbeschränkte Popularität seiner Frühwerke, vermochte aber auch nicht die Musiker in demselben Maß zu gewinnen, wie etwa „Tristan“ oder die „Meistersinger“. Alle Opposition gegen Wagner wandte sich von jeher in erster Linie gegen den „Ring“.

In der Tat bestehen nicht ganz leicht zu erkennende Unterschiede zwischen ihm und den Werken Wagners. Wenn wir an eines von diesen,

etwa den „Tristan“ oder die „Meistersinger“ herantreten, so empfinden wir gleich von Anfang etwas, das dem ganzen vielgestaltigen Werk eine unbeschreibliche Einheit gibt. Es ist da etwas wie eine gemeinsame Atmosphäre, die alles umgibt und alles durchdringt. Es ist wie ein geheimnisvoller Mittelpunkt der Zeugung, von dem alles ausstrahlt, alles gespeist wird. Von hier aus entsteht der einem jeden Werk, und nur ihm allein, eigentümliche Stil, der dann in der Musik zutage tritt, und

— vom Vorspiel angefangen, das den Sinn des Ganzen gleichsam in nuce enthält — bis in die letzten Takte hinein sich auswirkt.

Ein solcher Mittelpunkt fehlt dem „Ring“. Nicht, daß er nicht auch seinen eigenen Stil hätte; aber Art und Charakter dieses Stiles sind anders als in den übrigen Werken. Haben wir dort von Anfang an eine bestimmte menschlich-dichterische Atmosphäre, die dem ganzen Wesen und Farbe gibt, so baut sich hier alles erst langsam aus vielerlei Einzelheiten auf — jene Götter, Riesen, Zwerge, die Tiefe des Rheins, die Höhlen Nibel- heims usw. — die zunächst viel mehr um ihrer selbst willen da zu sein scheinen, als für die kahle Handlung, die sie dürftig verbindet. Nur ganz allmählich gewinnt das Menschliche Raum — Siegmund und Sieglinde usw. —, um schließlich in der Idealgestalt Siegfrieds abzuschließen. Aber auch dies alles immer auf dem Hintergrund jener Welt von Fabelwesen und Zauberdingen, die doch keinerlei Ersatz geben kann für die dichterisch erlebte Grundstimmung in den übrigen Werken, zum Beispiel die Liebes- und Todessehnsucht des Tristan, die strahlende Heiterkeit der „Meistersinger“. Jedenfalls nicht für den Musiker; denn dieser braucht eben das dichterisch Gesehene, menschlich Erlebte dieses Mittelpunktes, dieser Grundstimmung, um produktiv zu werden: gerade dies — das wird uns damit klar — ist die eigentliche Quelle seiner Kraft und Entfaltung, dies erst läßt sich von der Musik völlig durchdringen und mit ihren eigenen Mitteln zur lebendigen Wirklichkeit bringen. Währenddessen das, was man als Mittelpunkt des „Rings“ bezeichnen kann — etwa die Idee des mit dem geraubten Rheingold verbundenen tragischen Verhängnissen — eben eine Idee bleibt, nur abstrakt ge-

dacht, und daher der Musik nicht erfaßbar.

Damit wird die Haltung der Musik nun überhaupt völlig verändert, sie hat gleichsam eine andere Funktion zu erfüllen. Ihr Zusammenwirken mit der Szene wird noch weit enger als bei den übrigen Werken Wagners. Was hier musiziert wird, ist nichts über oder hinter dem, was auf der Bühne vorgeht — es sind vielmehr die Erscheinungen selber, alle jene Götter, Helden, Riesen, Zwerge, das Feuer, das Wasser usw. Die Musik ist gänzlich an den einzelnen Moment gebunden, alles wird der

Deutlichkeit untergeordnet. Es gibt keine echtere „Theatermusik“. So entsteht jene Reihe bis zur Abstraktion vereinfachter Motive, die infolge ihrer ungeheuren Plastik und Prägnanz populärer geworden sind, als jede andere Musik Wagners. Ihre eigentliche Bedeutung im Ganzen des Dramas haben sie aber im Grund nur bei ihrem ersten Auftreten, eben im Zusammenwirken mit der Bühne. Sie sind isoliert, ohne Folge, darum nicht an sich stimmungschaffend, schöpferisch, wie so manche Hauptthemen anderer Werke. So werden sie auch weiterhin mehr als Erinne rungszeichen, als Bausteine verwendet. Mit ihnen aber entwickelt sich jene eigentümliche Technik der „Leitmotive“, die nirgends auch nur annähernd so konsequent durchge- fülirt ist, wie in den späteren Partien des Nibelungenrings. Die Musik erhält überhaupt einen ausgesproche- chen dekorativen Charakter; das zeigt sich bis in die Behandlung des Orchesters hinein. Daher das ganze Riesenaufgebot orchestraler Mittel. Es kommt hier Wagner — nicht wie in anderen Werken — auf den (cha- rakteristisch-)einheitlichen Gesamtcharakter des Klanges an, sondern auf größtmöglichen Reichtum an Einzel-Wirkungen, Ausnützung der Einzelfarben in ihrer ganzen Leuchtkraft, vielfach rein nebeneinander hingestellt, die gruppenweise Verwendung der Instrumente usw. Die ganze Musik hat jeden Rest von geschlossenem absolutem Charakter völlig verloren. Rein musikalischen Formen ist möglichst aus dem Weg gegangen. Die Struktur ist locker, mäßig, oft gleichgültig, zuweilen nur Fetzen, notdürftig verbunden. Statt großer symphonischer Zusammenhänge grandios-dekorative Potpourris (wie etwa Rheinfahrt, Trauermarsch in der „Götterdämmerung“).

Es gibt heute in weiten Kreisen eine starke Opposition gegen Wagner, die viel mehr ist, als nur eine Reaktion gegen übertriebenen Wagner-Kultus früherer Zeiten. Nicht nur, daß sich der wirkliche Musiker, der wirkliche Dichter auflehnt gegen die Entwertung seiner Kunst, wie sie das Wagnerische „Gesamtkunstwerk“ mit sich bringt. Nein, man spricht Wagner überhaupt die letzte künstlerische Berechtigung ab, da seine Musik nicht einheitlich-organisch, nicht rein und einfach, wie alle große Kunst, sondern zusammengesetzt aus heterogenen Teilen ist, kokettierend mit verschiedensten — künstlerischen wie unkünstlerischen — Wirkungen, mit den unterschiedlichen Instinkten des Hörers rechnend. Unter allen Werken ist es speziell der „Ring“, gegen den sich diese Vorwürfe richten.

Das hängt mit dem oben Gesagten zusammen, mit der veränderten Funktion der Musik, ihrem engeren

Zusammenwirken mit Geste und Szenen, ihrer geringeren Eigenbedeutung.

Man übersieht dabei nur, daß es sich hier um ein anderes Ziel handelt, als zum Beispiel bei den übrigen Werken von Wagner. Gewiß, das Ganze ist mehr eine Oberfläche als ein Mittelpunkt. Aber diese Oberfläche, wie sinnlich ist sie erfaßt! Welch unerhörte Bildkraft besitzen diese Visionen, wie die Götterburg, der Ritt der Walküren, das Feuer usw. Was der Musik und damit der dichterischen Intuition an Folgerichtigkeit und Einheitlichkeit abgeht, ersetzt sie durch die gesteigerte Wirkung des Moments. Und wäre die monumentale Größe, das ungeheure Tempo der „Walküre“, die Freiheit des „Siegfried“, die kolossalen Dimensionen der „Götterdämmerung“ möglich, ohne jenen dekorativ-musikalischen Unterbau einer Fabelwelt, die all diese übermenschlichen Gestalten hebt und trägt?

Freilich — und jetzt kommen wir zum Wichtigsten — müssen alle diese Werke auch so gesehen werden, wie sie gegeben sind! Wir wollen auf das komplizierte, bisher noch nie ganz klar dargestellte Wesen des sogenannten „Gesamtkunstwerkes“ hier nicht näher eingehen (niemand hat mehr getan, als Wagner selbst, hierüber die Begriffe zu verwirren); das aber muß festgehalten werden: Ein Geist ist es, der alle diese vielgestaltigen Mittel durchdringt, von einem Willen werden sie gelenkt. Dieser Wille ist einheitlich und einfach, wie nur je der Wille großer Kunst. Alle einzelnen Mittel, die Musik, das

Wort, der Schauspieler, der Regisseur, haben ihre Rechtfertigung nur in ihrer Beziehung auf die gemeinsame Endwirkung, und diese ist dichterischer Art. (Dichterisch im weitesten Sinn des Wortes.) Der Dichter ist der Schöpfer dieses Werkes, des Dichters Stimme muß klar und vernehmlich aus ihnen sprechen. Das geschieht aber nicht, sobald daraus eine Symphonie oder ein psychologisches Drama oder gar ein Ausstattungsstück gemacht wird. Hier liegt die ungeheure Bedeutung der richtigen Aufführung für den „Ring“. Denn in dem Moment, wo sich einzelne Faktoren vordrängen, der Regisseur auf Kosten des Musikers, der Musiker auf Kosten des Darstellers, da entsteht eben jene Wirkung des Zusammengesetzten, der Häufung, des im tiefsten Sinn unkünstlerischen Nebeneinander, die der Opposition immer wieder neue Berechtigung zu geben scheint. Mehr noch als ein anderes Werk Wagners kann der „Ring“ durch eine unzutreffende Aufführung in seiner Wirkung gefälscht werden.

Richtlinien für eine solche Aufführung kann aber nur die Musik geben. Das hängt mit ihrer Funktion innerhalb des Gesamtkunstwerks zusammen; sie ist auch im „Ring“ das letzte und differenzierteste Werkzeug des Dichters, dasjenige, durch das er sich am deutlichsten ausspricht; sie ist das eigentlich Stilschaffende des Werkes. Von ihr muß daher jede Geste, jede Szene ausgehen, zu ihr zurückkehren. Darum ist der Musiker der eigentliche Vollstrecker des dichterischen Willens.

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