Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
Grashalme beben im Wind
Zwei Stadtbahnzüge waren in die Station eingefahren und zwei hatten sie wieder verlassen. Der Mann saß noch immer auf der Bank und sah vor sich hin. Zwischen den Schienen war ein kurzes, von der Sonne schon gelb gebleichtes Grasbüschel. Es waren nur wenige Halme, doch er konnte den Blick nicht von ihnen wenden. Jedesmal beugten sie sich tief zur Erde, wenn ein Zug in die Haltestelle ein- fuhr, und jedesmal richteten sie sich nach dem letzten Waggon wieder auf, schwangen hin und her. Immer wieder dasselbe Spiel, immer im gleichen Rhythmus.
Der Mann war schon oft hier eingestiegen, noch nie waren ihm diese Grashalme aufgefallen. Heute, gerade heute! Dabei hatte er an andere Dinge zu denken. An den Wechsel. Heute war der Wechsel fällig und er hatte kein Geld.
Was wollte er hier in der Station?
Warum stieg er nicht in einen der Wagen ein? Worauf wartete er?
Wieder fuhr ein Zug ein und die Halme beugten sich zu Boden, der Zug fuhr aus und sie standen wieder auf, schüttelten sich, winkten mit langen Fahnen im Zugwind und zitterten noch eine kleine Weile nach, bis das Beben des nächsten Zuges zu spüren war.
Was sollte nun werden? Er konnte nicht mehr weiter. Doch alles geht weiter Alles?
Die Gräser werden weiter im Winde wehen. Immer weiter im Winde wehen, als wäre nichts geschehen. Die Menschen werden alle am Rande des Bahnsteiges stehen; die Rettung wird kommen, vielleicht die Feuerwehr Doch nach einer halben Stimde wird alles wieder wie vorher sein.
Er hatte schon oft hier gewartet. Heute waren ihm diese Gräser aufgefallen.
Er hatte es immer eilig gehabt.
Einnahmen, Ausgaben, Zinsen, Angebote, Steuern, all das war ihm immer durch den Kopf gegangen. Heute hatte er Zeit. Heute hatte er nichts zu versäumen. Heute kam er noch immer zurecht, zu diesem kam er noch immer zurecht.
Ein Zug rollte an.
Menschen stiegen aus und ein. Der Mann saß auf der Bank und blickte vor sich hin. Eine scharrende, schnaubende Herde rauschte an ihm vorbei, und wieder war das Rollen der Räder, das Klappern und Knattern der Kupplungen wie beim Einfahren des Zuges zu hören.
Vor ihm stand das Büschel Gras.
Solch ein Büschel war es in dem dreckigen Loch gewesen. Die Panzer waren vorbeigerollt. Er war fast erstickt, tief in dem Krater eines Geschoßeinschlages, zwischen Schlamm und Leichen. Warum war er es nicht? Er würde sich dieses Heute ersparen: Er war wieder vorsichtig und langsam den Trichter hochgekrochen, und oben, am Rande zwischen Lehmbrocken, zwischen verkohlten Überresten von Menschen und Uniformen, hatte er einige Grashalme im Winde sich hin- und hemeigen sehen. Sie waren verschont geblieben, wie er verschont geblieben war.
Lange war er gelegen. Still war es um ihn gewesen. Die Kampflinie war weitergerollt und nur von fern hörte er noch ihr Brüllen, verspürte er ihr Beben. Still war es um ihn und er war dagelegen und hatte in den Himmel geblickt, vor dem sich, ganz nah, dieHalmeschwangen. Nie hatte er noch Grashalme so betrachtet.
Später waren die Gräser vergessen. Blumen, Bäume und Menschen, tausend andere wichtigere Dinge waren da.
Wieder hörte man das Rollen des nahenden Zuges. Er stand langsam auf.
Die Gräser zitterten und waren ganz Erwartung.
Der Mann blickte mit leeren Augen tim sich und ging unsicheren Schrittes zur Fahrbahn vor Schon sah man den einfahrenden Zug. Die Halme neigten sich im Wind.
Die Kupplungen klapperten, die Räder ratterten wie fernes Maschinengewehrfeuer und die Bremsen kreischten laut auf. Jäh hielten die einfahrenden Wagen, die Türen wurden überall aufgerissen, Menschen sprangen heraus. Die Station, in der es vor einem Augenblick ruhig und still war, erfüllte das Lärmen hastender Menschen. Pfiffe und Rufe der Bahnbediensteten erschollen. Füße scharrten, Türen stießen hart aneinander, Eilende stießen einander an.
Minuten danach war es wieder ruhig. Das Rattern der Räder verklang in der Feme.
Eine ältere Frau, die etwas langsamer als die anderen Fahrgäste den Perron verließ, sah kopfschüttelnd zu dem Mann, der an den Schienensträngen stand und auf ein paar Grashalme starrte, die im Winde hin- und herwehten. Dann schlug sie die Stationstür zu.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!