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Grasses Märchen

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Der umstrittenste unter den großen und der größte unter den umstrittenen Autoren der Bundesrepublik, Günter Grass, erzählt uns „Die Rättin“, mit Recht ohne Gattungsbezeichnung. Ist es, wieder einmal, ein „Schelmenroman“, überhaupt ein Roman oder ein Märchen?

Alles Erzählbare kommt zur Sprache, beispielsweise der einst berüchtigte Bilderfälscher Lothar Malskat, „die Machwerke der beiden Staatsgründer“ (gemeint: Adenauer und Ulbrich), die Brüder Grimm persönlich und ihre bekanntesten Figuren und — so fängt das Buch an: „Auf Weihnachten wünschte ich eine Ratte mir“, die alsbald überzeitlich beredte Figur wird, ein Traumbild also, refrainartig „die Rättin, von der mir träumt“, genannt. So lange, bis sie dominiert.

Eines der Gedichte, die Grass interpoliert, meditiert: „Mir träumte ein Mensch, / sagte die Ratte, von der mir träumt. / Ich sprach auf ihn ein, bis er glaubte, / er träume mich und im Traum sagte: die Ratte, / von der ich träume.“

Der Autor rekapituliert die Geschichte der letzten dreißig Jahre, aber auch seine Geschichten, auch von „unserem Herrn Matzerath“, dem Blechtrommler, ist viel die Rede. Der kleine Mann ist eine Größe geworden — wie denn nicht —, Wirtschaftskapitän, er fährt natürlich einen Mercedes. Günter Grass fabuliert also die „Danziger Trilogie“ weiter, „weil er Gefallen findet an Lügengeschichten“, er verspottet auch den sogenannten Fortschritt: „Zwei Gene hier-, vier Gene dorthin: wir manipulieren./ Was heißt schon Natur! Zu allem geschickt,/ verbessern wir Gott.“

Zweifellos gereift ist diese apokalyptische Prosa, die erst mit dem letzten Wort in die traumhafte Wirklichkeit zurückkehrt: „Ein schöner Traum, sagte die Rättin, bevor sie verging.“ Nacherzählbar ist das nicht — weil unnachahmlich —, ein satirisches Märchen, eine märchenhafte Satire, nicht nur unheimlich, auch unheimlich gekonnt.

DIE RATTIN. Von Günter Grass. Verlag Hermann Luchterhand, Darmstadt und Neuwied 1986. 511 Seiten, geb., öS 304,20.

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