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Greenpeace statt Friede im Grünen

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Ich hatte Zeit, bummelte durch den Stadtpark, derzeit U-Bahn- Baustelle, schlenderte über eine Betonbrücke, Aug in Aug mit den gläsernen Fassaden neuer Hotelfertigbauten, überquerte den Autobusbahnhof, schlängelte mich an unzähligen Auspuffrohren vorüber, folgte einer Autorampe nach oben und stand schließlich inmitten einer massiven Betonlandschaft vor dem „Statistischen Zentralamt“: ich war auf der Suche nach möglichst genauen Zahlen über die Krebssterblichkeit in Österreich.

Der Gesundheitsstatistiker legte eine in verschiedenen Abstufungen weiß-grau-schwarz schraffierte Landkarte vor — die Krebskarte von Österreich. Sie weist für jeden Bezirk extra die Krebstoten in den Jahren 1978 bis 1984 aus. Insgesamt sterben in Österreich im Jahr an die 20.000 Menschen an dieser zum Teil vermeidbaren Todesursache, jährlich kommen an die 30.000 Neuerkrankungen dazu. Der Arzt und Statistiker Hans Friedl hat für jede Krebsart - Magen, Darm, Lunge, Brust, Prostata — eine eigene Landkarte angelegt, getrennt für Männer und Frauen. Der Statistiker läßt sich kaum zur Interpretation seiner Zahlen verführen, er zählt nur zusammen. Andere aber haben bereits Schlüsse aus dem alarmierenden Material gezogen.

Zum Beispiel Wiener Neustadt, diese Perle im Industriegebiet Wien-Süd. Dort liegen die Werte für den Tod durch Brustkrebs um 70 Prozent, die für den Darmkrebs um 30 Prozent über dem österreichischen Durchschnitt. Der Stati stiker spricht von „erheblichen“ Überschreitungen der Durchschnittswerte.

Wiener Neustadts Bürgermeister Gustav Kraupa bestreitet, daß diese Zahlen etwas mit dem verseuchten Trinkwasser der Gegend zu tun haben könnten — er „läßt untersuchen“. Seine Grünen haben ihm längst Gutachten auf den Tisch gelegt, die einen eindeutigen Zusammenhang etwa zwischen dem Unkrautvertilgungsgift Atrazin und der hohen Krebs-

Sterblichkeit nachweisen. Diese Atrazine sind wie alle anderen Umweltgifte über die wilden Deponien in den aufgelassenen Schottergruben ins Grundwasser gelangt. Unter dem Namen „Mit- temdorfer Senke“ ist diese Katastrophe bereits ein Begriff.

Oder das liebliche Burgenland: Dort ist generell und deutlich stärker als im Westen Österreichs Darmkrebs die Ursache allzu vieler Todesfälle. Die hohe Darmkrebsrate steht eindeutig in Verbindung mit der falschen Ernährung in diesem Bundesland. Denn auch die Ubergewichtigkeit tritt im Burgenland erwiesenermaßen gehäuft auf.

Auf meinem Karzinom-Rund- gang durch meine Heimat kann ich auch bei den Werten der strammen Tiroler nicht aufat- men. Im Ferienbezirk Imst, in dem immerhin die Ski- und Wanderparadiese von Sölden, Ober-

gurgl, ötz- und Pitztal liegen, sind nicht nur die Berge, sondern auch die Lungenkrebs-Kurven höher als der österreichische Durchschnitt. Die Gesundheitsbehörden sind diesem Alarmsignal unverzüglich nachgegangen, der Amtsarzt des Bezirkes prüfte jeden Totenschein — die an Lungenkrebs gestorbenen Landsleute waren - Höhenluft hin oder her — zum Teil schwere Raucher, zum anderen Teil Steinbrucharbeiter. Wie die Lungenkrebs-Statistik aussehen wird, wenn sich die Gifte des Transitverkehrs erst so richtig abgesetzt haben werden, bleibt abzuwarten.

Angesichts des Weltatlas wird einem nicht wohler: die überdüngte, sterbende Adria, die auf dem Meer herumirrenden Giftschiffe, die Müll-Landschaften, die Erwärmung der Erdoberfläche durch Industrie-, Auto- und Haushaltsabgase. Die Ozonöffnungen über dem Nord- und dem Südpol. Greenpeace statt Friede im Grünen. Ostermärsche statt Osterspaziergänge.

Der Mensch hat der Natur den Vernichtungskrieg angesagt, zu Wasser, zur Luft und auf dem Land, da kann kein Osterfriede darüber hinwegtäuschen. Stichworte zum Thema Osterspaziergang fallen einem ein: Faust, Mephisto. Faust ist der rastlose Weltenforscher, der Erfindungsvor- antreiber, der Kraftwerksbauer, der Verstehen- und Beherrschenwollende, der Gen-Wissenschaftler, der Wasch- und Düngemittelerzeuger. Er hat das Penicillin entdeckt, aber auch die Chemikalien, die die Adria und das Wiener

Neustädter Grundwasser verseuchen. Er hat das Auto konstruiert, mit dem Kranke schneller ins Spital gebracht werden können, aber es sind auch die Autos, die den Stau über den Brenner verursachen.

Faust, das sind wir, keine Frage. Und es war Mephisto, der Faust immer wieder zum Verweilen verführen wollte. Im 20. und 21. Jahrhundert wird das Verweilen- Können ein Muß für die gesamte Menschheit. Wir müssen innehalten lernen, uns bescheiden, sorgsamer umgehen mit dem Rohmaterial Erde. Wenn es nicht schon zu spät ist.

Zu Ostern fallen auch andere Stichworte ein: Tod und Auferstehung zum Beispiel. Als ich triste aus dem Statistischen Zentralamt kam, schien die Sonne, sie wärmte sogar. Wir kommen vielleicht aus einem sehr langen Winter. Doch in einem Beet vor dem Gebäude blühte inmitten von Beton die erste Forsythie. Vielleicht gibt uns die Natur noch eine Chance?

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