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Grenzen der Naturwissenschaft

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Heiner auch für den Laien faszinierenden A rt gelingt es dem Wiener Physiker Herbert Pietschmann, sich um fassend mit dem Einfluß der Wissenschaft auf unser Denken und unsere gesellschaftliche Entwicklung auseinanderzusetzen. A uszüge aus dem ersten Kapitel seines neuesten Buches charakterisieren den Ausgangspunkt der Überlegungen des Autors, während der zweite Beitrag einen Überblick über die (Jrundaussagen des Werks zugeben versucht.

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Heiner auch für den Laien faszinierenden A rt gelingt es dem Wiener Physiker Herbert Pietschmann, sich um fassend mit dem Einfluß der Wissenschaft auf unser Denken und unsere gesellschaftliche Entwicklung auseinanderzusetzen. A uszüge aus dem ersten Kapitel seines neuesten Buches charakterisieren den Ausgangspunkt der Überlegungen des Autors, während der zweite Beitrag einen Überblick über die (Jrundaussagen des Werks zugeben versucht.

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Galilei erhebt den Anspruch, alles, was meßbar ist. zu messen. Wenn wir heute Raumsonden zu den Nachbarplaneten senden, so folgen wir damit im Grunde noch immer derselben Aufforderung des Galileo Galilei, die am Anfang der Naturwissenschaft steht. Wir ..sammeln Daten” über diese Gestirne, das heißt, wir wollen eben wirklich alles messen, was meßbar ist.

Was aber heißt der zweite Salz? ,,Was nicht meßbar ist, meßbar machen!” Erinnern wir uns der Ausführungen Brahms' über die Inspiration, ihre Einmaligkeit und Unvergleichbarkeit. Wer könnte wohl versuchen, die Größe der Beethovenschen Werke an den Brahmssehen zu messen? Wie sollte man einen Maßstab finden, an dem die Inspiration in Zahlen abzulesen wäre? Und dennoch: Wenn wir die Intelligenz von Menschen mit Hilfe von Tests in einem „I. Q.” (Intelligenzquotient) festhalten, so folgen wir damit der zweiten Aufforderung des Galilei: Was nicht meßbar ist, meßbar machen. Der Wert, die Liebe, die Hingabe eines Menschen sind nicht meßbar.

Sehen wir uns an, wie wir heute die Forderung an das naturwissenschaftliche Modell der Wirklichkeit formulieren: Es muß in sich widerspruchsfrei sein und darf nicht im Widerspruch mit den Experimenten stehen. Wenn wiederholte Messungen ein und desselben Phänomens verschiedene Ergebnisse zeitigen, wenn die Ergebnisse also einander widersprechen, können sie nicht in das Modell aufgenommen werden. (Daher kommt natürlich auch die Fon-derung nach Intersubjektivität.) Nur was widerspruchsfrei gemacht werden kann, wird zum Baustein des Modells.

Aufgrund dieser gewonnenen Widerspruchsfreiheit sind wir mächtig geworden. Wir brauchen keine Angst vor Göttern und Geistern mehr zu haben, wir können sie eliminieren.

Die Methode ist also ganz auf Zweckmäßigkeit, Nützlichkeit ausgerichtet und hat damit ja auch glänzenden Erfolg. Die Voraussagen der Naturwissenschaft für experimentelle Ergebnisse stimmen, die Produkte der Technologie funktionieren. Immer weitere Bereiche der Wirklichkeit werden widerspruchsfrei im Modell erfaßt, immer mehr wird die Natur umgestaltet und - im Sinne des Experimentes -vereinfacht.

Was aber geschieht mit dem Teil der Wirklichkeit, der nicht meßbar gemacht werden kann, was geschieht, wenn sich Widersprüche nicht eliminieren lassen? Was geschieht überhaupt, wenn wir die Wirklichkeit in einen „meßbaren” und einen „nicht meßbaren” Teil zerlegen? Die „Kraft”, von der Brahms spricht, ist nicht meßbar: die Inspiration, die zu seinen Werken führt, ist nicht widerspruchfrei, denn sie kommt „von der Allmacht”, „von oben”, „von Gott”, aber doch nicht von irgendeinem bestimmten Ort oder einem bestimmbaren Wesen. Und dies ist der wahre Grund, warum sich die Neue Wissenschaft vom Menschen abwenden mußte, denn der Mensch ist nie frei von Widersprüchen; mit den Widersprüchen muß daher auch der Mensch eliminiert werden.

Das Modell, das die Naturwissenschaft konstruiert, erscheint uns ernster, wichtiger und realer als die erlebte Wirklichkeit. Widersprüche werden nicht mehr bloß eliminiert, sie werden zu Irrtümern, deren Auftreten einer Panne gleichkommt. So müssen wir die Beschreibung der Methode der Neuen Wissenschaft durch Galilei heute ergänzen, indem wir sagen: „Alles was meßbar ist, messen, was nicht meßbar ist, meßbar machen, und was nicht meßbar gemacht werden kann, ableugnen.”.

Ist die Naturwissenschaft davon ausgegangen, nur das zu betrachten, was -im Prinzip -jedem möglich ist, der sich redlich bemüht, so muß sie heute eingestehen, daß diese Forderung angesichts der Spezialisierung nicht mehr erfüllbar ist. Sowohl die Praxis, die technischen Geräte, als auch der theoretische Uberbau sind heute so verästelt, so kompliziert geworden, daß ein einzelner Mensch nur mehr einen verschwindend kleinen Teil beherrschen kann. Dies schafft aber eine neue, hierarchische Abhängigkeit: die Abhängigkeit von'den Experten. Für jedes Problem, für jeden technischen Artikel gibt es Experten: alle anderen sind von ihnen abhängig . . .

Damit ist natürlich gleichzeitig die Forderung nach Intersubjektivität /u einer leeren Formel geworden.

Diese neue Abhängigkeit von Experten verkehrt natürlich den ursprünglichen Ansatz in sein Gegenteil. Während zunächst die Berufung auf intersubjektive Gesetze wirklich befreite, die Austreibung der Geister den Menschen tatsächlich von den Ängsten vor der Natur bewahrte, schafft die zunehmende Spezialisierung eben eine neue Abhängigkeit von jenen Menschen, die die Naturgewalten beherrschen, weil sie sie verstehen.

Es wird oft als besonderer Vorzug der naturwissenschaftlichen Methode gepriesen, daß sie ..wertfrei” sei. daß sie also emotionslos und konfliktfrei betrieben werden kann. Zunächst können wir feststellen, daß dies eine selbstverständliche Folge der Forderung nach Widerspruehsfreiheit ist.

Die Naturwissenschaft ist nicht frei von Werten, sondern die gesetzten Werte müssen angenommen werden: wir können sagen, sie ist frei von.Wer-ten, weil die Werte schon vorausgesetzt sind. Da es sich aber nun nicht mehr nur um Methoden handelt, sage ich lieber siatt Voraussetzung gleich Vorurteil, ein Urteil, das gefällt wird, bevor man naturwissenschaftlich arbeiten kann, cm Urteil vor der Naturwissenschaft, eben ein Vorurteil, das außer Streit steht.

Natürlich gibt es eine Menge solcher Vorurteile, einige sind uns aber schon bekannt, und wir können sie gleich als Werturteile formulieren: „Widersprüche sind schlecht”, „Umfassendere Aussagen sind besser als weniger umlassende”. „Einlach ist besser als kompliziert”? „Wertfreiheit ist gut”. „Emotionen sind schlecht”. „Konfliktfreiheit ist gut” sind nur einige der Werte, die die wertfreie Naturwissenschaft ständig begleiten. Wenn wir aber vergessen, daß wir diese Werte gesetzt haben, um naturwissenschaftlich arbeiten zu können, dann kommen wir zu jener Trennung der Wirklichkeit in einen scheinbar wertfreien Teil und den Rest, der dann aber wiederum als weniger gut. ja weniger wichtig oder gar weniger wirklich angesehen werden könnte.

Fassen wir zusammen: Die Naturwissenschaft konstruiert ein Modell der Wirklichkeit, das in sich widerspruchsfrei ist und nicht im Widerspruch mit den Experimenten stehen darf. Es ist möglichst einfach, intersubjektiv überprüfbar und vereinheitlicht verschiedenste Phänomene unter übergeordneten Gesichtspunkten. Um dies zu erreichen, müssen einige Voraussetzungen außer Streit gestellt werden: sie sind von allen, die dieses Modell gebrauchen, zu akzeptieren. Damit ermöglichen wir uns eine Beherrschung der Welt, weil wir möglichst alles zu Dingen machen, aus denen die Widersprüche eliminiert sind. Das Individuum Mensch mit seinen persönlichen Problemen und Gefühlen muß dabei ausgeklammert werden.

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