7025509-1989_10_08.jpg
Digital In Arbeit

Grenzen der Perestrojka

Werbung
Werbung
Werbung

Die polnische Wochenzeitschrift „Zycie Literackie“ überraschte vor kurzem ihre Leser mit der Nachricht, daß sie demnächst mit der Veröffentlichung von Alexander Solscheni- zyns „Im ersten Kreis der Hölle“ in Fortsetzungen beginnen werde.

Die offensichtliche Kühnheit der polnischen Redaktion (und damit der polnischen Behörden)

hat nach Ansicht politischer Beobachter vor allem den Zweck, die von Michail Gorbatschow angestrebte „sowjetische Informationsgesellschaft“ als rückständig erscheinen zu lassen.

Zur Zeit scheint in der Sowjetunion Wladimir Nabokows Liebesroman „Lolita“ die staatlichen Zensurbehörden zu passieren. George Orwells .Aninaal Farm“, das einst noch Stalin persönlich auf die Verbotsliste setzen ließ, und Arthur Koestlers „Sonnenfinsternis“ sind bereits für den sowjetischen Leser, wenn auch in bescheidener Auflage, erhältlich. Die Werke Solschenizyns konnten bisher nicht gedruckt werden.

Kurz vor Weihnachten, unmittelbar vor dem 70. Geburtstag des Autors, erklärte noch der Chef-

ideologe des sowjetischen Politbüros, Wadim Medvyedew, daß die Publikation von Werken wie „Der erste Kreis der Hölle“, „Krebsstation“ oder „Der Archipel Gulag“ die Fundamente der heutigen sowjetischen Gesellschaft untergraben würde.

Medwedews Haltung markiert den gegenwärtigen Stand der Glasnost-Politik Michail Gorbatschows. Denn obwohl sogar westliche Journalisten erstmals einen Gulag besuchen und mit eigenen Augen feststellen können, wieviel Ähnlichkeit noch mit dem von Solschenizyn beschriebenen Straflager herrscht, bleibt eine unverrückbare Abneigung des Kreml gegenüber dem russischen Schriftsteller im amerikanischen Exil.

Solschenizyn galt seit jeher als scharfer Kritiker und Ankläger des kommunistischen Systems. Durch seine moralische und tiefreligiöse Grundorientierung hob er sich zusätzlich von zahlreichen seiner Schriftstellerkollegen ab.

Noch im August des Vorjahres wagte das Literaturmagazin „No-

vy Mir“, das mit Billigung Nikita Chruschtschows 1962 die Veröffentlichung von „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ von Solschenizyn durchgesetzt hatte, die Prophezeiung eines baldigen Erscheinens der Werke „Krebsstation“ und „Der erste Kreis der Hölle“ sowie einer möglichen Rückkehr des Autors in seine Heimat. Aber nur wenige Wochen nach Erscheinen des Magazins wurde die gesamte Auflage in Millionenhöhe auf Geheiß der Parteiführung wieder eingezogen und eingestampft.

Besonders übel kreidete man Solschenizyn seine Aussage im .Archipel Gulag“ an, wonach es schon Lenin war, und nicht erst Stalin, der die Vorbereitungen für ein System der Straflager getroffen hatte — das wirkt deshalb so störend, da Gorbatschow seine Glasnost-Politik in vieler Hinsicht auf Lenins Gedankengut zurückführen will. Mit der gegenwärtigen Verdammung Stalins bleibt daher nur Lenin als einzig verbindendes Symbol für die Grundlagen des kommunisti-

sehen Systems.

Im November schließlich bekannte der Chefzensor der sowjetischen Presse, Wladimir Boldy- rew, auf die Frage nach den Auswirkungen von Glasnost und Perestrojka, daß „auch in Zukunft jegliche Informationen, die ein Staatsgeheimnis oder die Interessen des Landes betreffen, verboten bleiben müssen“.

Wenn nun in Polen Solschenizyns Werke über die Zustände in den stalinistischen Arbeitslagern erscheinen, heißt das noch lange nicht, daß dies auch für die Sowjetunion bald zutrifft.

Die Politik Gorbatschows, die auf die Erzielung eines nationalen Konsenses - und also auf die Einbindung auch der Altkommunisten - ausgerichtet ist, erfährt hier ihre Grenzen. Durch die harte Kritik am Gründer des Sowjetstaates bleibt Solschenizyn in seiner Heimat weiterhin eine „Unperson“ und seine Werke verboten. Es ist allerdings unwahrscheinlich, daß dieser rigorose Standpunkt lange aufrechterhalten werden kann.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung