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Grenzen des Wohlfahrtsstaates

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Die Jahre 1965 bis 1975 waren für die Sozialpolitik Jahre der stürmischen Entwicklung. Heute - die breite Diskussion über das Budget 1977 zeigt dies - werden die Grenzen erkennbar.

Die Erfahrung von „Grenzen“ ist zwar schmerzhaft, aber unumgänglich. Sie führt uns dazu, die Bestände unseres Wohlfahrtsstaates zu bewerten und auf ihre Dauerhaftigkeit und Haltbarkeit zu überprüfen. Dies insbesondere, weil der rasche Wandel immer wieder neue soziale Aufgaben stellt.

Das System der sozialen Sicherheit ist eine der Säulen, auf denen unsere Gesellschaftsordnung ruht. Dieses System deckt die allgemeinen Risken des Lebens ab und baut dem sozialen Abstieg vor.

Abnehmende Zuwachsraten des Wirtschaftswachstums haben jedoch die Abhängigkeit und enge Verflechtung des Systems der sozialen Sicherheit von der konjunkturellen Entwicklung gezeigt. Ein hoher Beschäftigungsstand, verbunden mit hohen Arbeitseinkommen, ergibt hohe Beitragsleistungen für die Sozialversicherung. Ein konjunktureller Rückgang führt deshalb zu Anspannungen im Finanzierungsbereich.

Die Erfahrung hat gezeigt, daß die direkte Finanzierung über Sozialversicherungsbeiträge immer weniger ausreicht, den Finanzbedarf für unsere soziale Sicherheit zu decken. Zuschüsse des Bundes aus allgemeinen Steuermitteln sind deshalb notwendig geworden. Das bedeutet wiederum, daß die einzelnen Bürger neben ihren Versicherungsbeiträgen auch über ihre Steuerleistungen das System unserer sozialen Sicherheit finanzieren.* Der Belastbarkeit der Bürger aber sind zweifelsohne Grenzen gesetzt, deren Überschreitung den Wohlstand nicht mehr sichert oder vergrößert, sondern gefährdet.

1975 hat, wie es im offiziellen Text des Bundesfinanzgesetzes 1976 heißt, die Belastungsquote bereits 38,7 Prozent betragen. Damit lagen wir im internationalen Spitzenfeld. 1977 werden wir auf Grund der Budgetsituation eine Belastungsquote von zirka 40 Prozent erreichen, und das bedeutet, daß von 1000 Schilling Einkommen 400 Schilling an den Staat in Form von Steuern und Abgaben abgeführt werden müssen.

Hier erahnen wir die Grenzen des Wohlfahrtsstaates. Die Neigung der praktischen Sozialpolitik, in der Finanzierung Beitrags-, Gebühren- und Steuertechniken bunt zu mischen, macht es oft schwierig, die wahren Kosten-Nutzen-Verhältnisse zu durchschauen. Sie werden erst dann transparent, wenn man sich die Gesamtbelastung einschließlich der indirekten Steuern vor Augen führt.

Natürlich läßt sich die Belastungsgrenze nicht durch einen exakten Prozentsatz angeben. Das ist auch gar nicht erforderlich. Die Überschreitung dieses Punktes ist bereits vorher durch das Gesetz des abnehmenden Nutzenzuwachses erkennbar: wenn es zweifelhaft wird, ob sich der Mehreinsatz für eine sozialpolitische Maßnahme überhaupt noch lohnt.

Es kann allerdings keinen Zweifel darüber geben, daß der Wohlfahrtsstaat eine Umverteilungsfunktion zugunsten der sozial Schwachen wahrnehmen muß, dies aber nicht undifferenziert nach dem Gießkannenprinzip so gestalten darf, daß für eigentliche soziale Notfälle nur noch proportional, nicht jedoch nach dem Grad ihrer Armut geholfen werden kann.

Dem proklamierten Ziel, die Armut zu beseitigen, ist die sozialistische Regierung nicht mehr näher gekommen. Sie hat sich durch ihre unsoziale Belastungspolitik, die auch kleine und mittlere Verdiener hart trifft, eher davon entfernt. So leben rund 700.000 Mitbürger in diesem Lande, deren Einkommen unter der Armutsgrenze liegt, was deutlich zeigt, daß die Segnungen des Wohlfahrtsstaates bei weitem nicht allen zugute kommen, am allerwenigsten denen, die sie am dringendsten brauchten.

Die Reaktionen vieler Bürger auf die drückenden Belastungen können als Indiz dafür gewertet werden, daß der kritische Punkt der Belastungshöhe erreicht, wenn nicht überschritten ist. Denn was steht diesen Belastungen als Nutzen gegenüber? Immer wieder wird behauptet, daß damit die Arbeitsplätze gesichert werden. Genauere Untersuchungen beweisen jedoch, daß dieses Argument einfach nicht stimmt.

Das Institut für Wirtschaftsforschung hat in einem seiner jüngsten Berichte unmißverständlich klargelegt, daß vom Budget 1977 keine Impulse für die Wirtschaft ausgehen. Anfang dieses Jahrs hat eine wissenschaftliche Studie, bestellt von Finanzminister Androsch, festgestellt, daß von den 21 Milliarden Schilling Mehrausgaben von 1975 nur 4 Milliarden für 0,25 Prozent der insgesamt 2,6 Millionen Arbeitsplätze der Unselbständigen eingesetzt wurden. 99,75 Prozent der Arbeitsplätze sicherten sich die Österreicher selbst.

Die Auswirkungen der Belastungen auf den Leistungsanreiz, die Einsatzbereitschaft, die Lohnpolitik und die monetäre Entwicklung sind nicht weniger gravierend. Wenn sich der einzelne Bürger erst einmal ausgebeutet fühlt, wird er versuchen, seinerseits das System auszubeuten, also herauszuholen, was möglich ist, auch über Hintertüren und auf Schleichwegen. Die extreme Inanspruchnahme staatlicher Einrichtungen und Subventionen wird dann als berechtigte Notwehr empfunden und betrieben. Dabei geht die für jeden Wohlfahrtsstaat unabdingbare soziale Gesinnung und Solidarität verloren.

Die derzeitige Tendenz geht dahin, mehr Nivellierungs- denn Sozialpolitik zu betreiben. Durch die Verteilung nach dem Gießkannenprinzip bekommen die Armen zu wenig, während die Reichen Zuteilungen erhalten, die sie nicht brauchen. Dieses System ist teuer, der Nutzen in weiten Bereichen zweifelhaft, die Tendenz zur Uberbetreuung des Bürgers und damit zur Vermehrung der Abhängigkeit offensichtlich, die Belastungen für den Bürger enorm und die Auswirkungen auf die soziale Gesinnung bedenklich.

Der Wohlfahrtsstaat ist zur Sicherung der Daseinsvorsorge angetreten. Wenn er selbst zur Quelle der Verunsicherung wird, hat er seine Grenzen eindeutig überschritten.

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