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Größtes Kompliment

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Wir saßen auf der Bank vor seinem Haus: mein Freund und ich. Wir sprachen über Gott und die Welt, wozu zu sagen wäre, daß er mehr vom Thema wußte als ich, denn ich war achtzehn Jahre alt und er dreiundachtzig.

Niemand wird mir glauben, daß es ihn gegeben hat, denn er schien aus einem alten Bilderbuch zu stammen. Er hatte einen weißen Bart und rauchte Pfeife. Auch wegen der Bienen. Er hatte zwanzig Völker, und natürlich stand sein Haus am Waldrand mit Blick auf das Dorf. Und natürlich züchtete er Rosen. Sonntags spielte er die Orgel in der Dorfkirche, wie es sich für einen pensionierten Lehrer gehört.

Herr Kantor, sagten die Bauern.

Auch wenn es mir niemand glaubt: Ich weiß, daß wir auf der Bank vor seinem Haus gesessen sind und über Gott und die Welt gesprochen haben.

Es war im Juli am frühen Nachmittag. Er fragte: „Wissen Sie, was das größte Kompliment ist, das man einem Menschen machen kann?”

Ich wußte es nicht.

In seiner Gegenwart kam ich mir immer noch viel dümmer vor als ich wirklich war.

Er zeigte auf die mächtige Krone der alten Dorflinde, die neben der Kirche stand.

„Wie gefällt Ihnen die?”

„Schön”, sagte ich, „ein schöner alter Baum.”

Er lachte belustigt: „Ja, so sehen Sie aus.”

Als ich ihn unsicher ansah, stand er auf.

„Kommen Sie, wir gehen hin.”

Wir gingen einen Feldweg entlang, dann unter Bäumen, bis wir zur Kirche kamen.

„Sehen Sie sich den Baum genau an”, befahl er.

Ich sah ihn mir genau an. Der Stamm war geborsten, die Blätter an den Rändern wulstig aufgerollt und völlig zerfressen, jedes einzelne. Der Baum war krank.

Mein alter Freund rauchte. „Wissen Sie jetzt, was das größte Kompliment ist, das man einem Menschen machen kann?”

Ich wußte es noch immer nicht. „Er gewinnt bei näherer Betrachtung. Merken Sie sich das.”

Ich merkte es mir.

Wenig später saßen wir wieder auf der Bank.

Von weitem sah man die grüne Krone der alten Linde. Das Summen der Bienen war das einzige Geräusch in der sommerlichen Stille.

Die Bienen machten meinem alten Freund Sorgen. Er lebte allein. Er hatte niemanden, der den Bienen seinen Tod ansagen konnte. Und ansagen mußte man es ihnen. Man mußte an die Stöcke klopfen und sagen:

„Der Herr ist tot.”

Ich dachte an unser Gespräch. Ich fragte:

„Gilt das auch für den Tod?”

Er verstand sofort. Er hüllte sich in eine Rauchwolke, aber ich spürte seinen Zorn. Er packte mich an der Schulter und schüttelte mich wie einen mißratenen Schüler:

„Sie -” brachte er hervor, „Sie - leben Sie gefälligst, verstanden? Leben Sie, zum Teufel nochmal, leben Sie!”

An diesem Tag trennten wir uns mit einiger Verlegenheit.

Ich war längst wieder in der großen Stadt, als eirr Brief von ihm kam. Ich sah es gleich an der Schulmeisterschrift, daß der Brief von ihm war. Er schrieb:

„Seien Sie einem alten Mann nicht böse. Noch dazu einem alten Lehrer. Ich wußte keine Antwort auf Ihre Frage. Darüber habe ich mich geärgert. Ich weiß auch heute noch keine. Kommen Sie bald wieder. Und - auf die Gefahr hin, daß ich mich wiederhole - : Leben Sie!(Er hatte es dick unterstrichen.) Merken Sie sich das.”

Ich merkte es mir.

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