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Großes Fressen

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Ein gewaltsamer Tod, eine Hinrichtung oder ein Selbstmord regen hin und wieder die Künstler zur Darstellung dieser letzten Episode im Leben eines Menschen an. Meist geschieht dies mit Takt. Die Dramatik des Geschehens wird herausgearbeitet und der Höhepunkt einer Leidenschaft akzentuiert. Allerdings kommt es zu oft vor, daß derartige Schilderungen in die Banalität abgleiten oder gar abstoßend wirken. Ja, abstoßend und vulgär. Diese Worte waren am Ende des 26. internationalen Filmfestivals in Cannes zu hören, wenn die Rede auf den skandalösen Film „Das große Fressen“ kam. Der diesjährige offizielle Beitrag Frankreichs zur Siebenten Kunst konnte, mit wenigen Ausnahmen, niemanden befriedigen. Er löste eine Schockwelle aus, die wohl in den nächsten Monaten ihren Höhepunkt erreichen dürfte. Im Pariser Parlament hagelt es Anfragen. Die Verantwortlichen der französischen Filmwirtschaft stehen im Kreuzfeuer schärfster Kritik. Die Präsidentin der Jury, die weltberühmte Schwedin Ingrid Bergman, drückte unmißverständlich das Unbehagen einer Minderheit der Preisrichter aus. Die Mehrheit brachte es immerhin zustande, „Das große Fressen“ mit einem Preis zu bedenken. Eine spezialisierte, einen intoleranten Links-ionformismus vertretende Presse lobt diesen Streifen. Sie rühmt ihn als die letzte Absage an die Konsumgesellschaft und als ein Meisterwerk, in dem die heutige Ordnung ad absurdum geführt wird. Bezeichnenderweise schloß sich das Zentralorgan der französischen kommunistischen Partei „L'Humanite“ diesen Lobeshymnen nicht an. Es pflichtete vielmehr allen bei, die am liebsten einem solchen Schaffen der Filmkunst den Oscar der Vulgarität verleihen würden.

Um was geht es in diesem so viel zitierten und alle Diskussionen des Festivals dominierenden Film? Vier Männer im besten Mannesalter beschließen, das irdische Jammertal durch Selbstmord zu verlassen. Sie verwenden dazu weder Gift, Pistole oder Strick, noch überklettern sie die Schutzgitter des Eiffelturms. Sie wollen bei einer Freßorgie ihre Gedärme so belasten, daß diese schließlich platzen müssen. Dabei werden alle Funktionen des Unterleibs genüßlich gezeigt. Nach der Vorführung in Cannes blieben die sonst sehr belebten Luxusrestaurants gähnend leer. Das Exempel des „Großen Fressens“ rief solchen Ekel hervor, daß sich niemand hätte an einem kleinen Diner erfreuen können. Wäre wenigstens die Handlung dramatisch auf-

gebaut, würde man eventuell die schockierende Wirkung akzeptieren. Aber der Zuschauer wird außerdem noch durch eine unbeschreibliche Langeweile gequält. Dasselbe gilt für den zweiten Skandalstreifen der Franzosen, „Die Mama und die Hure“. Dreieinhalb Stunden lang schwätzt ein junger Mann über belangloses Zeug. Nicht eine einzige gute Idee, kein einziger dramatischer Effekt überbrücken den hohlen Dialog.

25.000 Männer und Frauen prüften drei Wochen lang ungefähr 600 Filme aus allen Staaten der Welt; lediglich der deutschsprachige Film war nicht offiziell in Cannes anwesend. Die Frage stellte sich zwangsläufig: „Wohin führt ein künstlerisches Schaffen, das gleichzeitig mit großen finanziellen Interessen verbunden ist?“ Im Zeitalter der audiovisuellen Revolution kommt dem Film eine gesteigerte Bedeutung zu. Die rasante technische Entwicklung der Bildübermittlung, das Kassetten-und Kabelfernsehen verlangen von den Filmproduzenten neue Ideen,

originelle Situationen und gut aufgebaute Handlungen. Denn Filmkrise hin, Filmkrise her, das Zelluloidband nimmt im Leben der Nationen einen wichtigen Platz ein.

Der russische Beitrag in Cannes sagte viel über das tägliche Leben der Sowjetbürger aus. Er ist ein vorzügliches Gesellschaftsdokument dieses Riesenreichs. Der Film ist nach wie vor eine Visitenkarte. Er soll auch weit entfernten Völkern zeigen, wie man im Land des Produzenten denkt und handelt, was für Probleme existieren und wie gewisse

Konflikte gelöst werden. Mit Recht nannten fast alle in Cannes anwesenden Franzosen „Das große Fressen“ die schlechteste Werbung für die V. Republik. Die Gewissenser-. forschung dieser Welt des Flitters und des Scheins, der großen Illusionen, auch der künstlerischen Aspirationen und eines kreativen Wollens, setzt bereits vor der Preisverteilung ein, da Cannes weiterhin die größte Filmmesse des Planeten ist. Venedig hörte längst auf, zu existieren. Berlin, Teheran oder Moskau sind nicht geeignet, das internationale Frühlingstreffen an diesem

einzigartig schönen Ort zu ersetzen. Der günstige Zeitpunkt, die lokale Begrenzung und der wohlorganisierte Filmmarkt machen aus Cannes das Zentrum der internationalen Filmwirtschaft.

Freilich pilgern die Göttinnen von einst nicht mehr zu diesem Mekka.' Selbst das kleine Starlett, das durch private Striptease-Vorführungen die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte, ist verschwunden. Der Produzent, der im Casino mit seiner Apollo-Raketen-großen Zigarre 10.000 Dollars verspielte, gehört der Legen-

de an. In den Mittelpunkt des Geschehens rückten inzwischen die Regisseure. Heute ist für einen Film ausschließlich ein Name wie Visconti, Fellini, Truffaut oder Bergman das Barometer. Auch der junge Film lebt und stirbt mit der beherrschenden Figur des Regisseurs. Seine Macht ist um vieles stärker als noch vor zwanzig, ja vor zehn Jahren. Diesen Männern — gelegentlich sind es auch Frauen — fiel in dieser Saison wenig ein. Sehen wir von den schon zitierten Filmen ab, so gab es noch gute Durchschnittsware: einige sauber gedrehte Streifen. Vollkommen vermißt wurde der zündende Funke, das revolutionäre Drängen zu einer allgemein gültigen Gestaltung der gegenwärtigen Situation. Das letzte Werk von Bergman („Schreie und Flüstern“) oder die reizende Komödie von Truffaut „Die amerikanische Nacht“ machten allerdings eine Ausnahme.

Die internationale Filmwirtschaft steht ohne Zweifel an einem Kreuzweg. Sie kann weiterhin in die vom „Großen Fressen“ angepeilte Richtung gehen. Aber selbst die findigsten Filmkritiker werden dem Publikum auf die Dauer nicht einreden können, dies seien Kunstwerke — oder — etwas bescheidener — halbwegs vernünftige Unterhaltung. Schließlich und endlich — was wollen die Leute vor dem Bildschirm oder in den verdunkelten Sälen? Sie wollen sich entspannen, Lebensfreude wiedergewinnen, die Alltagssorgen für zwei Stunden vergessen und manchmal vermessenerweise sogar kulturelle Impulse erhalten. Die Leute, die nun eine „Mama und die Hure“ konfektionieren, bieten kaum die vom Durchschnittsbürger erwartete Nahrung. Die Filmkrise ist daher in erster Linie eine Krise der Gestaltung und der Inspiration. Nicht jeder, der sich zum Filmedrehen berufen fühlt, hat alle Voraussetzungen, um dem Zuschauer etwas zu geben, das den Alltagsrahmen sprengt. Diese höchst simple Erkenntnis scheint sich bei einigen Verantwortlichen nach dem 26. Filmfestival in Cannes durchgesetzt zu haben.

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