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Grünhirsche und Rauchfangbeseteer

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Geplante Atomkraftwerke und Waldzerstörungen sorgen für Aufregung in der politischen Landschaft. Direkt-demokratische Aktionen fordern die alten Parteien heraus.

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Geplante Atomkraftwerke und Waldzerstörungen sorgen für Aufregung in der politischen Landschaft. Direkt-demokratische Aktionen fordern die alten Parteien heraus.

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Der Weg von der bürgerlich-liberalen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zur wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft unserer Tage ist gekennzeichnet durch ständig steigende Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse und Probleme. Im Laufe dieser Entwicklung erfolgte eine ständige Funktionsanreicherung des Staates. Die Funktionsanreicherung von Politik und Staat wurde hauptsächlich durch die politischen Parteien vermittelt.

Das ursprüngliche Ziel der Parteien, staatliche Machtpositionen zu besetzen, um dadurch staatliche Entscheidungen im Sinne ihrer Ideologien zu beeinflussen, ist bei steigender staatlicher Verantwortung für die Gesellschaft auf fast alle Bereiche menschlichen (Zusammen-)Lebens ausgeweitet worden.

Parteien und Staat haben sich dadurch auch allmählich in ursprünglich staatsfreie Bereiche „hineingearbeitet“ (zum Beispiel Kultur, Sport, Soziales, Freizeit). Unsere wohlfahrtsstaatliche Gesellschaft mit einer unbegrenzten Allzuständigkeit des Staates ist das Endprodukt dieser Entwicklung.

Auf diesem Weg haben sich die Parteien mit mächtigen Interessenverbänden verbündet (Sozialpartnerschaft). Sogenannte Sachnotwendigkeiten wirtschaftlichen Fortschritts, gesellschaftlichen Wandels und Wachstums wurden von den zunehmend berufsmäßig-professionell agierenden Partei- und Verbandseliten akzeptiert und in staatliche Entscheidungen transformiert.

Die Parteien und ihre „Experten der Politik“ ebneten auch den Weg für die „Politik der Experten“. Dieser Weg verlief in der Regel nach bewährten technokratischen Mustern der Problemlösung, die zumeist wirtschaftliche Probleme oder Folgeprobleme betrafen.

Die ursprüngliche, ideale Ausgangsbeziehung zwischen Parteien und Bürgern ist gekennzeichnet von dem Versuch, die Bürger mit ihren jeweiligen Interessen gegenüber dem Staat zu vertreten und zu verwirklichen. Dieses Ausgangsideal der Parteienbildungen degenerierte zu einer Rivalität der Parteien um möglichst große Stimmen- und damit Machtanteile im Staat.

Dieser Logik zufolge wenden sich die Parteien hauptsächlich in Wahlkampfzeiten an die Bürger. Eine darüber hinausgehende Aktivierung der Bürger wird von den Parteieliten vielfach als kontraproduktiv empfunden. Auch die Praxis des von den Parteien getragenen Konkurrenzparlamentarismus hat sich auf weite Strek-ken und in wichtigen Fragen von seiner demokratischen Basis, den Bürgern in ihren konkreten Lebenslagen, zunehmend entfernt.

Unsere heutigen Parteien sind im 19. Jahrhundert entlang der Strukturformel des Gegensatzes von Arbeit und Kapital entstanden — ihre Problemsicht und Problemlösungen sind noch immer diesem Zweierschema verhaftet.

Viele neue Probleme und Folgeprobleme der gegenwärtigen Industriegesellschaft sind jedoch abseits und abweichend von diesem dualen Grundmuster entstanden. Wichtig sind in dieser Hinsicht vielfältige neue sogenannte „Konsumentenprobleme“ der modernen Wohlfahrtsgesellschaft, zum Beispiel Datenschutz, Bildungs- und Gesundheitsprobleme, Pensionsproblematik, staatliche Servicedienste verschiedenster Art.

Von noch größerer Bedeutung in der heutigen Politik sind neue und alte „Umweltprobleme“ als „Uberlebensprobleme“ der Gesellschaft, die sich gleichfalls dem alten Gegensatz von Kapital und Arbeit entziehen.

Angesichts der beiden genannten neuen Problemfelder (umfassende Konsumentenprobleme und Umweltprobleme) werden die Grenzen des Mehrheitsprinzips in der Wohlfahrtsgesellschaft deutlicher sichtbar und Le-gitimations- und Funktionsprobleme des parlamentarischen Regierungssystems evident.

Derartige direkt-demokratische Einrichtungen können nur dann funktionieren, wenn der Bereich öffentlicher Kommunikation (Medien) offengehalten werden kann und nicht von Staat, Parteien oder mächtigen Verbänden oder Privaten kontrolliert und manipuliert wird.

Die wichtigste Aufgabe einer funktionierenden politischen Öffentlichkeit besteht darin, Themen zu politisieren und Meinungen dazu zu mobüisieren, um sie letztlich auch als Entscheidungsthemen der staatlichen Instanzen beeinflussen und mitgestalten zu können.

Die Freiheit dieses Kommunikationsfeldes auch gegenüber dem Zugriff der politischen Parteien abzusichern, zum Beispiel durch Rundfunk- und Medienvielfalt, ist die eine Seite - ebenso wichtig ist aber der aktive mündige Bürger, der seine Interessen, Wünsche, Vorstellungen und so weiter in diesen Kommunikationsbereich einbringt.

In gewisser Weise sollten die Parteien aus diesem Bereich der informierten und engagierten Öffentlichkeit sowohl inhaltlichthematisch gespeist, angeregt und konkurrenziert werden; wichtig sind aber auch personelle Anstöße, Konkurrenzierungen und Profilierungen gegenüber dem Personal in Parteien und Verbänden, Parlamenten, Regierungen und Bürokratien.

Wer die Chance hat, Aufmerksamkeit zu erlangen — wodurch auch immer, ob zum Beispiel durch Greenpeace-Aktion oder Grünhirsch-Verkleidung -, vermag auch leichter neue gesellschaftliche und politische Wirklichkeit zu schaffen.

Strategien, Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu erlangen, bestehen darin, Themen aus den allzuständigen Geltungsansprüchen der Parteien herauszuspielen, mit wichtigen Personen (zum Beispiel Konrad-Lorenz-Volksbegehren!), spektakulären Ereignissen, am besten Katastrophen, nach allgemeiner Auffassung als gesundheits- oder lebensbedrohend aufgefaßten Ereignissen (Smog, Atomunfall) in Verbindung zu bringen. Auch moralische Aspekte politischer Skandale (Androsch, Frischenschlager, Se-kanina) eignen sich ebenso zur Inszenierung von politischen Themen wie Krisen oder Krisensymptome, bei denen besonderer Zeitdruck für die Entscheidenden besteht (zum Beispiel Waldsterben).

Die direkt-demokratischen Initiativ- und Entscheidungsrechte müßten gegenüber den derzeit bestehenden (verfassungsrechtlichen Möglichkeiten erweitert werden, aber auch tatsächlich genützt werden. Beispiele für derartige Erweiterungen auf Landes-, Bundes-, Regions- und Gemeindeebene wären:

(Kombinierter) Ausbau/Einbau von Volksbegehren, Volksabstimmungen, Volksbefragungen, Bürgerinitiativen, Bürgervorbe-gutachtungsmöglichkeiten von Gesetzen und anderen staatlichen Entscheidungen, Planungsmit-wirkungsmöglichkeiten, Planungskontrolle, Ausbau neuer öffentlichkeitswirksamer Kontrollen in der Bürokratie, Einspruchsrechte, Informations- und Auskunftsrechte der Bürger, obligatorische Bürgerinformationen bei gewissen Themen.

Direkt-demokratische Initiativen müssen nicht immer zu formalen Entscheidungen führen. Ihr Ziel kann auch und ist sehr oft auf Entscheidungsverhinderung in den offiziellen staatlichen Machtapparaten gerichtet. Auch verhinderte Entscheidungen des Staates sind Entscheidungen der Bürger und damit demokratische Entscheidungen! Auch NichtEntscheidungen sind Entscheidungen - nämlich für den Status quo.

Das Ausweichen auf Formen der direkten Demokratie macht auch sachliche und soziale Schwierigkeiten des Entschei-dens in den komplexen staatlichen Organisationen offenkundig: Durch die direkt-demokratischen Aktionen sollen mit Hilfe des Aufbaues unmittelbarer Interaktionsketten die Regeln und Entscheidungen auf den höheren, organisatorisch verdichteten Entscheidungsebenen der Politik und des Staates unterlaufen werden.

Diese Unterscheidung zwischen organisierter staatlicher Entscheidungsebene und direkt-demokratischen Interaktionen sollte nicht nur hinsichtlich des Brems- und Blockeffekts gegenüber der dafür organisierten staatlichen Entscheidungsebene —quasi als Widerstand oder Sabotage — gesehen werden, sondern vielmehr als Chance, neue Motivquellen zu erschließen, als elastische Widersprüche, aber auch als Auffangmöglichkeit für unvermeidliche Widersprüche, aber auch als Impuls für Lernprozesse auf den höher aggregierten und stärker formalisierten Organisationsebenen in Parteien und Verbänden sowie in Parlamenten, Regierungen und Bürokratien verstanden werden.

Der Autor ist Professor für Staatsrecht und Politische Wissenschaften an der Universität Linz. Der Beitrag ist dem Forschungsbericht „Die Zukunft der Parteien“ der Politischen Akademie der OVP entnommen.

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