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Günstige Prognosen

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Vorarlberg, das kleinste, gebirgigste und an natürlichen Reichtümern ärmste der österreichischen Bundesländer, war schon vor dem Kriege das — nach Wien — relativ am stärksten industrialisierte Land Österreichs. Heute exportiert es pro Kopf der Bevölkerung fast doppelt soviel wie der Bundesdurchschnitt. Man braucht nicht lange mit Statistiken und Wohlstandsindikatoren zu operieren, um zu erkennen, daß dieses Land eine im positiven Sinn abweichende Entwicklung innerhalb der österreichischen Bundesländer durchgemacht hat. — Wo liegen die Gründe und Ursprünge dieses besonderen Vorarlberger Weges?

Nach den napoleonischen Kriegen, als die heutige Westgrenze Österreichs fixiert war, und der ehemals

lebhafte Verkehr über die Alpen mehr und mehr auf den Gotthard und den Brenner umschwenkte, hätte man Vorarlberg, dem von Bergen und Zollgrenzen umschlossenen äußersten Zipfel der Monarchie, keine aussichtsreiche wirtschaftliche Zukunft prognostizieren dürfen. Weder der Handel noch die Landwirtschaft konnten die Bevölkerung ernähren; das Land hat so gut wie keine Bodenschätze, Klima und Bodenbeschaffenheit erlauben keinen rationellen Äckerbau.

Aber die Vorarlberger hatten damals schon auf das Pferd gesetzt, mit dem sie die Zukunft gewinnen sollten: auf die Industrialisierung. Die traditionellen Kontakte mit den Nachbarn im Westen und Norden hatten es fast zwangsläufig mit sich

gebracht, daß sie von allen neuen Produkten und Verfahren Kenntnis hatten. Mit einem erstaunlichen Instinkt warfen sich die alemannischen Industriepioniere auf jene Erwerbszweige, für die sie in ihrer Heimat — diesem Land ohne Rohstoffe und ohne leistungsfähige Verkehrsverbindungen, jedoch mit einer fleißigen und geschickten Bevölkerung — die Voraussetzung vorfanden: auf die Textilverarbeitung.

Im Jahre 1773 hatte das Haus Gunzenbach, St. Gallen, den Stickereiveredelungsverkehr mit Vorarlberg aufgenommen; 1792 hatten Flüchtlinge aus dem Französischen die erste Textildruckerei in Hard aufgebaut. Schon hatte der scharfe Blick der ersten Unternehmer den einzigen natürlichen Reichtum des

Landes entdeckt: An der Bruchlinie zwischen Rheintal und Bregenzerwald und zwischen Walgau und Rätikon, wo die Berge unvermittelt aus der Ebene aufragen, schießen zahlreiche Bäche mit starkem Gefälle zu Tal; sie lieferten die Energie für die ersten, mit Wasserkraft betriebenen Webstühle und Spindeln, die nun im ganzen Land in den eng an den Berg geschmiegten Fabriken zu arbeiten begannen.

Die Geschichte jedes der Vorarlberger Unternehmen, die damals in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden, mag im einzelnen noch so bunt und wechselvoll sein — gesamthaft gesehen verlief die Industrialisierung Vorarlbergs gleichmäßig, ohne dramatische Höhepunkte oder Katastrophen. Die Wirtschaftskrisen des 19. Jahrhunderts und die beiden Weltkriege brachten nur Zäsuren, die regelmäßig mit einem um so stärkeren Aufstieg beantwortet wurden.

Nach dem Ersten Weltkrieg trat die Stromerzeugung als wertvolle Ergänzung an die Seite der Industrie Das steil abfallende Hochgebirge im Süden, an dessen Flanke der Westwind reiche Niederschläge ablädt, brachte mit der „weißen Kohle“ dem Land vor dem Arlberg doch noch die lang entbehrte Energiequelle. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte innerhalb der Industrie eine breite Auffächerung ein, die aus dem Textilland ein Industrieland im besten Sinn machte, allerdings ohne Schwerindustrie. Schließlich wurden die Erholungsgebiete im Bregenzerwald, im Montafon und den übrigen Hochtälern im Süden sowie am Arlberg entdeckt und erschlossen; der

Fremdenverkehr ist heute neben Industrie und Elektrizitätswirtschaft die dritte Säule des Vorarlberger Wohlstandes.

Wer aber den Vorarlberger für einen typischen Homo oeconomicus hält, der irrt. Die Unternehmer dieses Landes sind meist Handwerker geblieben im Sinne Sombarts: Menschen, die die Sicherung der „Nahrung“ als Ziel ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit betrachten; der Nahrung allerdings nicht nur für sich persönlich, sondern auch für ihre Mitarbeiter. Und das heute so viel geschmähte Einfamilienhaus der Arbeitnehmer ist vielfach Surrogat für den schon vor Jahrzehnten aufgegebenen Bauernhof, nicht Flucht aus überfüllten Zentren, die es hier nie gab.

Vorarlberg ist bei aller Dynamik und Betriebsamkeit ein Land geblieben, in dem man nie vor lauter Arbeiten vergessen hat, auch zu leben. Humanisierung der Arbeitswelt und Steigerung der Umweltqualität sind hier keine leeren Phrasen; dies spiegelt sich in einem sagenhaften sozialen Frieden und in einer kritischen Haltung gegen alles allzu Neue, Gigantische und Undurchschaubare — diesseits und jenseits der Grenzen —, die man schon fast als „Industriefeindlichkeit“ ausgelegt hat. — Wenn das bekannte Hudson-Institut in jüngster Zeit festgestellt hat, daß nun die Stunde jener Länder schlage, die nicht mit puritanischer Wirtschaftsethik und rationalistischen Denksystemen groß geworden sind, so darf Vorarlberg diese günstige Prognose mit einiger Zuversicht auch auf die eigene Zukunft beziehen.

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