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„Guerillakrieg ist eine Lösung der irischen Frage“

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„Furche“-Redaktionsmitglied Hellmut Butterweck ist aus Belfast zurückgekehrt. „Die Furche“ begann in der letzten Nummer mit dem Report „Der Tod des Terroristen“ eine umfassende Berichterstattung über die Situation in Nordirland, die nun mit einer Serie von Interviews mit nordirischen Politikern fortgesetzt wird. Paddy Kennedy gilt als radikalster katholischer Abgeordneter im Stor- m o n t, Nordirlands Parlament. Er wurde kürzlich für einige Zeit von den Sitzungen ausgeschlossen und forderte nach der Rückkehr auf seinen Parlamentssitz die Entsendung von UNO-Truppen nach Nordirland. Er gilt unter allen katholischen Politikern des Landes als jener, der die engsten Beziehungen zum gewalttätigen Flügel der I. R. A. (Irish Republican Army) verfügt. Dieser Organisation wird auch der Sprengstoffanschlag auf ein Armeegebäude in Belfast (ein Toter, 22 Schwerverletzte) zugeschrieben.

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„Furche“-Redaktionsmitglied Hellmut Butterweck ist aus Belfast zurückgekehrt. „Die Furche“ begann in der letzten Nummer mit dem Report „Der Tod des Terroristen“ eine umfassende Berichterstattung über die Situation in Nordirland, die nun mit einer Serie von Interviews mit nordirischen Politikern fortgesetzt wird. Paddy Kennedy gilt als radikalster katholischer Abgeordneter im Stor- m o n t, Nordirlands Parlament. Er wurde kürzlich für einige Zeit von den Sitzungen ausgeschlossen und forderte nach der Rückkehr auf seinen Parlamentssitz die Entsendung von UNO-Truppen nach Nordirland. Er gilt unter allen katholischen Politikern des Landes als jener, der die engsten Beziehungen zum gewalttätigen Flügel der I. R. A. (Irish Republican Army) verfügt. Dieser Organisation wird auch der Sprengstoffanschlag auf ein Armeegebäude in Belfast (ein Toter, 22 Schwerverletzte) zugeschrieben.

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FURCHE: Vor eineinhalb Jahren wurden Nordirlands katholischer Minderheit umfassende Reformen versprochen. Wie steht es damit? KENNEDY: Wir hatten keine Reformen, nur eine Fassade. Der kleine Mann auf der Straße hat nicht gespürt, daß sich etwas geändert hat. Gewaltakte wie in

Ballymurphy werden verständlich, wenn man weiß, daß dort 50 Prozent der Männer arbeitslos sind. Ballymurphy ist’ katholisch, Vorwiegend s 1 y olisälen Derry sind 17 Prozent arbeitslos. Wenn man die durchschnittliche Arbeitslosigkeit in Nordirland von 9 bis 10 Prozent mit der der katholischem Minderheit, 30 bis 35 Prozent, vergleicht, ergibt sich für die protestantische Mehrheit praktisch Vollbeschäftigung.

FURCHE: Wurde in den letzten ein, zwei Jahren stark investiert?

KENNEDY: In Anbetracht der allgemeinen wirtschaftlichen Situation nicht allzu stark, vor allem aber ist es nicht die Politik der Regierung, Industrie dorthin zu bringen, wo die meisten Arbeitslosen, und das heißt hier Katholiken, sind. Investiert wird vor allem in protestantischen Gegenden. Colraine, wo bis vor 20 Jahren täglich um 9 Uhr abends eine Glocke läutete und von diesem Zeitpunkt an die

Katholiken nicht mehr auf die Straße gehen durften, bekam eine Universität.

FURCHE: Wie steht es mit dem Wohnbau?

KENNEDY: Etwas besser, vor allem in Belfast, wo sich unsere Agitation immer auf die Wohn- situation konzentriert hat, weil die Beschäftigungslage bis vor einem Jahr ohnehin nicht so schlecht war, aber jetzt ist Sie? katastrophal. Natürlich werden ■jetzt statt der alten“ Wobngettos 2 mit den winzigen Einfamilienhäusern modernere, aber wiederum Gettos errichtet — Protestanten unter sich, Katholiken unter sich.

FURCHE: Würde es anders nicht immer wieder zu Zusammenstößen kommen?

KENNEDY: Das frage ich mich. Ich glaube nicht, daß es so sein muß.

FURCHE: Warum dann die Gettos?

KENNEDY: Aus Gründen der Wahlmanipulation. Zwar hatten wir für die Stormont-Wahlen immer schon das Prinzip „one man one vote“ und die ganz krasse BenaditeUigung der Katholiken fand vor allem bei den Kommunalwahlen statt, aber auch durch Konzentrieren eigener

Wähler auf bestimmte Gebiete kann man allerhand erreichen.

FURCHE: Wie steht es in Nordirland mit Streiks?

KENNEDY: Streiks sind hier kein großes Problem., wenn gestreikt wird, dann so gut wie ausschließlich nur gegen geplante Fabrikschließungen.

FURCHE: Ihre Partei, Herr Kennedy, stellt im Gemeinderat von Belfast die stärkste oppositionelle Fraktion, während Sie im Parlament der einzige Abgeordnete sind. Wodurch unterscheidet sich Ihre Politik von der des katholischen Parteiführers Gerry Fitt, dessen Partei Sie früher an- gehört haben?

KENNEDY: Ich will die Grenze (zwischen Nord- und Südirland. Anm. d. Red.) beseitigt haben, er nicht. Oder besser: Er vielleicht auch, aber eben nur vielleicht, für mich ist das das Hauptproblem.

FURCHE: Wie wollen Sie dieses Ziel erreichen?

KENNEDY: Es liegt bei London, diese Grenze abzuschaffen.

FURCHE: Und Stormont, Nordirlands Parlament, hat dabei nicht mitzureden?

KENNEDY: Stormont ist kein Parlament, sondern eine komplette Farce. Dieses Parlament hat doch nicht einmal die volle Finanzkontrolle, keine Kontrolle über die Einkommensteuer, es ist ^ nicht das,Parlament eines souve- ränen Staates, sondern kann nur mit den „county councils“ in England verglichen werden. Stormont ist kein Parlament wie andere und ich möchte Stormont ebenso abgeschafft sehen wie die Grenze.

FURCHE: Und Sie glauben, daß London Ihnen diesen Gefallen erweisen wird?

KENNEDY: London sucht eine Lösung.

FURCHE: In dieser Form?

KENNEDY: Ich bin sicher, daß es auf lange Sicht dazu kommt, vielleicht nicht einmal auf allzu lange Sicht. Das Hauptproblem liegt anderswo. Wir nordirischen Katholiken wollen natürlich eine bessere Erziehung und mehr Wohlstand, als wir jetzt haben, und das alles wäre im heutigen Südirland nicht gewährleistet. Es bedeutet eine große Schwierigkeit für einen Sozialisten, der ich bin, daß seine Leute in einem vereinigten Irland weniger bekommen würden als jetzt. Ich bin der Meinung, daß uns Westminster auch nach der Entlassung aus dem United Kingdom noch zehn Jahre lang unterstützen müßte.

FURCHE: Die Protestanten, in Nordirland die Mehrheit, würden dann eine Minderheit darstellen. Sie haben Angst davor.

KENNEDY: Irland müßte natürlich seine Verfassung ändern. Die besondere Stellung der katholischen Kirche in der Irischen Republik müßte abge- scbafft werden. Zum Beispiel das Verhütungsverbot müßte weg, ebenso das Scheidungsverbot, und ein neuer Ausblick auf einen modernen Unterricht müßte geboten werden. Ich bin für Staatsschulen.

FURCHE: Und Sie meinen, daß die Irische Republik mit alledem einverstanden wäre?

KENNEDY: Südirland hat uns vergessen, versteht unsere Probleme nicht, und wir, die nordirischen Katholiken, sind nicht davon überzeugt, daß die Südiren meinen, was sie sagen, wenn sie ihren Vereinigungswillen aus- drücken. Nein, sie meinen das nicht wirklich.

FVIgHgĄDįnfcĮitįeh ßie alsb zwischen zwei Stühlen?

KENNEDY: Ich will ein neues System.

FURCHE: Das wili Bernadette Devlin auch.

KENNEDY: Ja, aber viel weiter links.

FURCHE: Sind Sie davon überzeugt, daß all das, was Sie für die nordirischen Katholiken wollen, auch von diesen gewollt wird?

KENNEDY: Was wir anstreben, wäre für Katholiken und Protestanten gut.

FURCHE: Sprechen wir von den Mitteln, dieses Ziel zu erreichen. Ist der militante Flügel der IRA ein Mittel dazu?

KENNEDY: Ich bin kein Mitglied dieser Bewegung, und wenn ich ihre Zielsetzungen als Außenstehender interpretiere, ist alles, was ich sage, der Gefahr des Irrens ausgesetzt.

FURCHE: Sie halten es für möglich, daß Attentate mit Bomben und Maschinenpistolen London veranlassen könnten, die britischen Truppen aus Nordirland abzuziehen?

KENNEDY: Ja. Ich glaube, ja.

FURCHE: Draußen auf der Straße patrouillieren Panzerwagen, stehen allenthalben bewaffnete Posten, sind überall über die Stadt verteilt Truppen in Bereitschaft. Sie glauben, daß die provisional IRA eine Chance hat, es mit dieser Streitmacht aufzunehmen?

KENNEDY: Natürlich nicht in offener Schlacht. Aber ich kann mir vorstellen, daß ein Guerillakrieg zu einer politischen Lösung der irischen Frage führt.

FURCHE: Dann ist also mit immer mehr Schießereien, immer mehr Angriffen auf britische Soldaten zu rechnen?

KENNEDY: Das wäre eine unglückliche Entwicklung, ich persönlich möchte es nicht. Ich will nicht, daß Menschen sterben müssen. Aber ich fühle: Die Verantwortung dafür trägt die britische Regierung.

FURCHE: Wer? Die Labours, die Truppen geschickt haben, oder die Tories, die sie hier lassen?

KENNEDY: Beide haben in die- ser Frage dieselbe Politk verfolgt.

FURCHE: Dann muß der militante IRA-Flügel so weitermachen — mit Gewalt?

KENNEDY: Ja, denn der britische Imperialismus hat noch kein Land gewaltlos aufgegeben.

FURCHE: Aber andere Länder unter britischer Herrschaft waren doch nicht so demokratisch regiert wie Nordirland?

KENNEDY: Nordirland ist nicht demokratisch, es gibt hier keine Demokratie.

FURCHE: Wieso nicht — angesichts der Tatsache, daß Nordirland immerhin ein Parlament hat?

KENNEDY: Irland, Südirland und Nordirland, letzteres mit einer Bevölkerung von ganzen eineinhalb Millionen, ist eine so kleine Nation, daß nur eine Vertretung des ganzen Volkes entscheiden kann, was geschehen soll.

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