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„Gut angelegt“

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Prognosen der UNO lassen erwarten, daß bei einer Verdopplung der Weltbevölkerung bis zum Jahr 2000 der Anteil der Stadtbewohner in den hochindustrialisierten Ländern 80 bis 90 Prozent ausmachen wird. In diesem Zusammenhang wird die untypische Entwicklung Wiens deutlich, denn die Bundeshauptstadt weist nicht nur eine stagnierende Bevölkerungszahl auf, sie liegt auch hinsichtlich Urbanität und Versorgungsangebot weit im Hintertreffen. Die Wiener Wirtschaft wächst langsamer als'der österreichische Durchschnitt, was insbesondere auf eine starke Abwanderungsbewegung zurückzuführen ist. Während von 1955 bis 1964 101 Unternehmungen aus Wien absiedelten, waren es in der um die Hälfte kürzeren Zeitspanne von 1965 bis 1969 bereits 137 Betriebe.

Chaotische Zustände im Massen-wle auch Indiviudalverkehr („Furche“ Nr. 45/72), eine kaum umweltfreundliche Politik der Wiener Stadtväter („Furche“ Nr. 47/72), ein fehlendes allgemeines Energiekonzept, Versäumnisse auf dem Gebiet der Wasserversorgung sowie ein zunehmender Funktionsverlust in Teilen des dichtbebauten Wohngebietes motivieren viele Unternehmen zur Flucht.

Trotz des Mangels an Spiel- und Parkplätzen sowie Grünanlagen sind laut Kontrollamtsbericht 1972 mehr als 10 Prozent der gemeindeeigenen Grundstücke ungenützt!

Allein im Jahr 1970 konnte die Gemeinde Wien im Wiener Stadtgebiet rund 2,4 Millionen (!) Quadratmeter Grund kaufen, und auch 1971 und 1972 wurden beträchtliche Beträge für Grundstücksankäufe ausgegeben. Dennoch wird immer wieder die verstärkte Möglichkeit zur Enteignung verlangt. Eine — in erster Linie politische — Forderung, die von der unzureichenden Planung und Nutzung der bereits erworbenen Grundstücke ablenken soll.

Konzeptlos verhängte (und später wieder aufgehobene) Bausperren tragen nicht nur zu Unsicherheit bei, sondern bringen auch gewichtige volkswirtschaftliche Schäden mit sich.

Ein geradezu grotesker Formalismus (z. B. Verzögerungen bei Ausfertigungen von Bescheiden) verursacht lange Bauzeiten und damit verbundene hohe Baukosten.

Daß bereits im Planungsstadium viel zuwenig Geschäftsgebiete ausgewiesen werden, hat zur Folge, daß die meisten Wiener Betriebe in ihrer räumlichen Entwicklung stark 'behindert sind und Kapazitätsausweitungen oft unmöglich sind. Am Beispiel der Per-Albin-Hansson-Sied-lung zeigte sich wieder einmal deutlich, daß mit der Planung zusätzlicher Geschäftszentren erst begonnen wird, wenn ein Großteil der Wohnungen bereits besiedelt ist und der allgegenwärtige sozialistische „Konsum“ mit seiner Monopolstellung bereits sein Initialgeschäft gemacht hat.

Die Zwitterstellung der Gemeinde sowohl als Träger der Hoheitsverwaltung als auch als privatwirtschaftlicher Unternehmer hat in der jüngeren Vergangenheit zu zahlreichen handfesten Skandalen geführt. Wien zählt zu den Städten mit dem größten Kommunalisierungsgrad der freien Welt; Leistungen, die von privaten Unternehmungen wirtschaftlicher und besser erbracht werden können, werden von gemeindeeigenen Unternehmungen durchgeführt.

Zur Illustration dieser rechtlich bedenklichen und wirtschaftspolitisch verantwortungslosen Entwicklung einige Beispiele:

• Durch die Beteiligung Wiens an 41 Kapitalgesellschaften sind rund 1,5 Milliarden Schilling Wiener Steuergelder gebunden; anderseits aber hat die Gemeinde Wien aus ihren Geschäftsanteilen seit 1945 nur rund 180 Millionen Schilling eingenommen.

• Im Zeitraum 1945 bis 1969 hat die Gemeinde Wien ihren eigenen Gesellschaften Darlehen (Kredite) in der Gesamthöhe von 453 Millionen Schilling gewährt, wovon noch ein Betrag von 323 Millionen Schilling ausständig ist.

• Subventionierung gemeindeeigener Betriebe durch die Gemeinde selbst (z. B. Stadthalle!); Haftungsund Bürgschaftsübernahme der Gemeinde für ihre eigenen Betriebe (siehe Kasten).

• Bei der Vergabe von Aufträgen werden gemeindeeigene Betriebe bevorzugt, obwohl andere Firmen günstigere Angebote stellen.

• Fortgesetzte Unterstützung notorisch unwirtschaftlicher Betriebe (Biomull, Filmzentrum, Kahlenberg-Restaurant, KIBA-Kinos und viele andere mehr).

Selbstverständlich erfüllen manche der gemeindeeigenen Betriebe Aufgaben, die im Interesse der Allgemeinheit liegen, andere jedoch stehen im Wettbewerb mit Privatbetrieben, wobei die Konkurrenzbedingungen sehr verzerrt sind, da die Stadt Wien beträchtliche Mittel aus Steuergeldern einsetzen muß, um steuerzahlende Betriebe zu konkurrenzieren. Der Verlust für die Gemeinde ist dabei ein zweifacher: einerseits werden Steuergelder in unwirtschaftliche Unternehmen verpulvert, anderseits entgehen der Gemeinde dadurch Steuergelder aus den niederkonkurrenzierten Privatbetrieben.

Da es in Wien keine mittelfristige Finanzplanung mit eindeutigen Prioritäten gibt, wird damit die Möglichkeit permanenter Fehlinvestitionen in Kauf genommen.

Obwohl Geldreserven von 4,3 Milliarden Schilling zur Verfügung stehen, werden wirtschaftlich ungerechtfertigte Tariferhöhungen vorgenommen. Derzeit werden Rücklagen — und zwar allgemeine Rücklagen von 981 Millionen Schilling und Sonderrücklagen von 3,32 Milliarden Schilling — laut Auskunft des Finanzreferenten bei einer durchschnittlichen Verzinsung von nur 4,54 Prozent „angelegt“. Es fehlt also offenbar nicht an Mitteln zur

Verbesserung der Lebensqualität in Wien; es fehlt aber an einem umfangreichen Konzept für einen koordinierten und effizienten Einsatz der Wiener Steuerkraft.

Die Folge dieser Mißwirtschaft sind ungenutzte Bundeswohnmittel, unverbrauchte Investitionsdarlehen sowie schleppende Durchführung bereits begonnener Projekte.

Allein im Jahr 1971 wurden folgende Vorhaben, für die im Budget für 1971 Mittel vorhanden waren, nicht in Angriff genommen: • Ein Sommerbad in Atzgersdorf (Höpfler-Bad);

• je ein „Haus der Begegnung“ in der Per-Albin-Hansson-Siedlung und in Rudolfsheim;

• eine Landesjugendherberge in Mauer;

• zwei Sportanlagen;

• die Planung bzw. Erweiterung von vier Pflichtschulen;

• ein Kindergarten im 3. Bezirk;

• die Regulierung des Schwechat-Wildbaches;

• die Errichtung eines Kohlenum-schlagplatzes in Albern;

• der Ausbau von Teilen der Maria-hilferstraße, der Hietzingerstraße und der Laaerbergstraße usw.

Der Wohnungsbau ging in Wien von 17.800 Einheiten im Jahr 1967 auf 10.200 Wohnungen im Jahr 1970 zurück. Der schleppende U-Bahn-Bau bringt neben einer bedeutenden Belastung der Wiener Wirtschaft insbesondere auch eine Verteuerung des Wiener Wohnbaus (U-Bahn-Steuer!) mit sich.

Kein Wunder also, daß die Bundeshauptstadt vielen heute nicht mehr attraktiv genug erscheint.

Abgesehen von den bereits eingangs erwähnten Absiedlungen von Unternehmen sinkt auch die Wohnbevölkerung (von 1,628.000 Einwohnern im Jahr 1961 auf 1,623.000 Einwohner 1969). Gleichzeitig sank die Zahl der berufstätigen Wiener um 14 Prozent; die Überalterung Wiens schreitet fort, und das in einer Zeit, in der andere Weltstädte, wie zum Beispiel das vergleichbare München, geradezu einen explosionsartigen Einwohnerzuwachs zu verzeichnen haben.

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