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Gute Nachbarschaft!

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Aufrichtig und vorbehaltlos kön- nen und wollen auch wir Österrei- cher unsere Glückwünsche zur Verwirklichung der deutschen Einheit entbieten. Zehn Jahre lang waren wir selbst von der Gefahr einer Teilung entlang der inner- österreichischen Demarkationslinie bedroht. Wir verstehen daher die Freude, die das deutsche Volk in diesen Tagen erfüllt.

Daß mit der Wiederherstellung der deutschen Einheit auch die Mauer in Berlin und der Eiserne Vorhang entlang der deutsch-deut- schen Grenze endgültig, ver- schwunden sind und die Men- schenrechte und Grundfreiheiten uneingeschränkt auch jenseits der bisherigen Grenze der Bundesre- publik Deutschland Geltung haben, ist-auch für uns- ein zusätzlicher Grund für tiefe Genugtuung. War es doch vor allem das Wissen um die Vielfalt der Bedrängnisse des Le- bens jenseits des „Eisernen Vor- hanges", das uns Österreicher seit 1956 einer Asylpraxis folgen ließ, wie sie bis dahin in Europa weder in ihrer Großzügigkeit, noch in ihrer Hintanstellung vordergründiger staatlicher Interessen üblich gewe- sen ist.

Alle mit politischen Ge- setzmäßigkeiten vertrauten Eu- ropäer sehen wohl auch die Beendi- gung des Sonderstatus für Berlin als ein gutes Zeichen für einen dauerhaften Frieden in Europa. Es ist eine in diesem Jahrhundert wie- derholt bestätigte Erfahrung, daß Territorien mit Sonderstatus im- mer konfliktfördernd sind und Spannungen, die selbst weit ent- fernt ihren Grund haben, - meist überhöht - wiederspiegeln.

Die Wiederherstellung der deut- schen Einheit gibt im inner- deutschen Bereich für die nahe und weitere Zukunft viele Fragen zu beantworten und viele Probleme zu lösen. Die bisher nach außen sicht- bar gewordene rechtliche und or- ganisatorische Problemlösungs- kapazität war beeindruckend.

Wir Österreicher wünschen auf- richtig, daß es unserem Nachbarn

gegeben sei, auch die sich unver- meidbar noch stellenden Fragen in gegenseitiger Akkordanz und mit gesellschaftlicher Akzeptanz einem von Maß und Geduld getragenen Lösungsprozeß zuzuführen. Ein krisenfreies und von weitgehender Harmonie erfülltes Deutschland liegt im europäischen und damit auch im österreichischen Interesse.

Die Aufrichtigkeit unserer Wün- sche wird wohl noch glaubwürdiger, wenn wir bekennen, daß auch wir Österreicher angesichts der Ge- schichte über den Machtzuwachs unseres Nachbarn nachdenken. Dies tut offenbar auch die deutsche Bundesregierung selbst. Sie hat diesen Machtzuwachs offiziell re- gistriert und ihn vor der parlamen-

tarischen Behandlung des Eini- gungsvertrages als einen Zuwachs an Verantwortung, vor allem auch an europäischer Verantwortung interpretiert.

So wie im zwischenmenschlichen Leben ein Miteinander ohne gegen- seitiges Vertrauen das Leben sehr schwer macht und zu gar manchen Komplexen und Fehlreaktionen führt, so ist es wohl auch im inter- nationalen Leben. Die Bundesre- publik Deutschland hat ebenso wie die ehemalige DDR die immerwäh- rende Neutralität Österreichs und damit unsere qualifizierte Eigen- ständigkeit im Gesamten und auf jedem Teilgebiet des zwischen- staatlichen Lebens respektiert.

Wir haben daher, ohne uns der Leichtgläubigkeit zeihen zu müs- sen, sachliche Gründe, darauf zu vertrauen, daß diese Politik ge- genseitigen Respekts und guter Nachbarschaft auch in Zukunft fortgesetzt wird. Daß wir dennoch ab und zu allen jenen, die in Öster- reich politische, wirtschaftliche und kulturelle Verantwortung tragen, die Mahnung zurufen werden, Vor- sorge zu treffen, daß unsere müh-

sam gewonnene und glücklich aus- gebaute Unabhängigkeit nicht Schaden leide, sei uns nicht ver- argt.

Vor einem aber wollen und müs- sen wir uns sehr hüten: nämlich davor, daß wir stets angstvoll nach einer Gefahr von einem machtvol- leren Deutschland Ausschau hal- ten und dabei übersehen, daß es an uns selbst liegt, unsere Republik so attraktiv zu gestalten, daß erwar- tungsvolle Blicke über die Grenze, die es zwischen den beiden Welt- kriegen gegeben hat, nicht mehr entstehen.

Die Wiedergewinnung der deut- schen Einheit ist ebenso wie der glückliche politische Aufbruch in der Tschecho-Slowakischen Föde- rativen Republik und in Ungarn keine Beeinträchtigung der inter- nationalen Stellung Österreichs, sondern eine Herausforderung an uns, sich den neuen Erwartungen, zu stellen. Österreich darf nicht funktionslos werden, nicht in der Welt und schon gar nicht in Euro- pa! Die immerwährende Neutrali- tät ist ebenso wenig überholt, wie auch der soziale Friede im Land oder das Ringen um einen ange- messenen Wohlstand oder der immer wieder neu zu unternehmen- de Versuch, Demokratie wirklich zu leben.

Gerade weil wir manche aus dem Zusammenbruch des Jahres 1918 herrührende Komplexe abgelegt und uns den Mut zur eigenen Iden- tität wieder erworben haben, kö- nen wir heute als Gleiche unter Gleichen Deutschland ebenso be- glückwünschen, wie auch jene unserer Nachbarn, die sich in ei- nem stürmischen Prozeß der Rehu- manisierung ihrer Staatswesen be- finden und nach einer neuen Funk- tion in der Welt Ausschau halten.

Das „Gemeinsame Haus Europa", architektonisch wohl gegliedert, nimmt Formen an. Gott geb's, daß der Schlußstein noch in diesem- Jahrzehnt gesetzt werden kann!

Der Autor, von 1970bis 1974 Bundesminister für aus wältige Angelegenheiten, war von1974bis 1986 Bundespräsident der Republik Österreich.

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