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Gutgläubiges Naturell

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Die geistige Auseinandersetzung über Sinn und Zweck der Landesverteidigung, 1955 beim Aufbau des Bundesheeres vom Jubel um die Befreiung unterbunden, hat 1975 einen verspäteten Niederschlag gefunden. Leider wurde die Diskussion darüber im stillen Kämmerlein des parlamentarischen Verfassungsausschusses geführt. Die Abgeordneten hielten wieder einmal ihre Arbeit für zu wichtig, um einer breiteren Öffentlichkeit Einblick zu gewähren. Dabei hätte man fast noch das Jubiläumsgeschenk versäumt.

Ergebnis: eine sogenannte „Wehrdoktrin“; juridisch gesehen, eine gemeinsame Entschließung des Nationalrates, in der die Bundesregierung aufgefordert wird, die Verteidigung des Landes nach den Grundsätzen einer umfassenden Landesverteidigung zu gestalten.

Mit dieser unverbindlichen Aufforderung ist nur ein erster Schritt getan, allerdings ein grundsätzlicher. Er macht einen wichtigen Fehler gut. 1955 hatte man nach Abzug der Besatzungstruppen aus Zeitmangel verzichtet, das Bundesheer auf den Boden einer zeitgemäßen Gesetzgebung zu stellen. Der Einfachheit halber übernahm man nahtlos die Verfassung von 1929. Diese Verfassung war jedoch auf das Kriegs- und Bedrohungsbild des Ersten Weltkriegs zugeschnitten. Der breite Fächer der modernen Bedrohung, die von der subversiven Kriegsführung bis zum Wirtschaftsboykott reichen kann, blieb unabgedeckt. Da eine Auseinandersetzung nur mit Waffen vorstellbar war, dachte man nur an die militärische Komponente einer Landesverteidigung. Der Soldat wurde automatisch zum alleinigen Träger des Verteidigungsgedankens.

Er sollte, wie es in der Kelsen-schen Verfassung hieß, die Grenzen schützen. Politikern wie Militärs kam diese Lineartaktik sehr gelegen. Dem Volk wurde vorgegaukelt, jeder Handbreit Boden würde verteidigt. Am frühesten wurde den Betroffenen, den Grenzbewohnern klar, daß das kleine Bundesheer diese Aufgabe nicht lösen kann. Die Kluft zwischen Schützer und Beschütztem wurde immer größer, die Glaubwürdigkeit des Heeres immer geringer. Den einzig möglichen Schritt, der Bevölkerung die Wahrheit zu sagen, wagte noch niemand. Bisher hat man nur den Gesetzestext geändert. Gefallen ist der überholte Gedanke vom Schutz der Grenzen. Er wurde ersetzt durch den Begriff der „umfassenden“ Landesverteidigung. Damit können die Betroffenen allerdings genauso wenig etwas anfangen, wie mit dem Konzept der „RaumVerteidigung“.

In der Tat mag es für einen Burgenländer nicht leicht zu verstehen sein, daß sein Land in Tirol verteidigt wird, daß es nicht auf den verlorenen Boden, sondern das behauptete Gelände ankommt. Der Abhalteeffekt, und um den muß es bei einer defensiven Landesverteidigung in erster Linie gehen, wird nicht vom Eintrittspreis bei der Grenze berechnet. Er ist die Summe aller Kräfte, mit denen ein Aggressor rechnen muß. Der „Eintrittspreis“ ist somit

bei einer Linearverteidigung geringer als bei einer Raumverteidigung. Zumindest vom Fußball her müßte das einleuchten. Die neue Konzeption bedeutet allerdings, daß man Räume, die schwerer zu schützen sind, freiwillig zugunsten jener Räume aufgibt, wo eine echte Abwehrchance besteht.

Zulange scheint es, hat man der Bevölkerung in Sachen Verteidigung falsche Hoffnungen gemacht. Mit dem verbalen Bekenntnis zur umfassenden Landesverteidigung geht man diese Gefahr neuerlich ein. Die neue Konzeption verlangt nicht nur vom Staat, sondern auch vom Einzelnen finanzielle Opfer. Die Bevorratung, die man allzulange vor sich hergeschoben hat, sieht auch die Lagerhaltung im Haushalt vor.

Die Chancen, den einzelnen von der Notwendigkeit kurzfristigen Konsumverzichts zu überzeugen, stehen nicht gut. Alle sogenannten Krisenschocks der letzten Jahre sind wie Sommergewitter an uns vorübergezogen. Das spezifisch gutgläubige Naturell des Österreichers verstärkt diesen Trend. Die Notvorsorge im Frieden scheint nur Leuten mit einer tief pessimistischen Seelenstimmung verständlich. Vorstellungen etwa, daß Österreich, ohne daß auch nur ein Schuß fällt, seine staatliche Souveränität verlieren könnte, werden verdrängt. Wie real diese Annahme ist, zeigte die CSSR-Krise des Jahres 1968. Knapp eine Woche blieben die lebenswichtigen polnischen Kohletransporte aus und schon mußten Betriebe im Wiener Raum die Produktion drosseln. Würde Österreich erst, vorsätzlich von seinen ausländischen Rohstofflieferungen abgeschnitten, könnte die Eskalationsstufe rasch so heißen: Arbeitslosigkeit, Unruhen, Resignation, kein Verteidigungswille. Das Bekenntnis zur umfassenden Landesverteidigung benötigt daher in erster Linie Mut zu Realität und Wahrheit.

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