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Häftling’ 80.574

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Die israelische Wintersonne fällt durch die Jalousien in die Wohnung am Bergrücken des Karmel-Berges in Haifa. Dort lebt Simha Naor mit ihrem Ehemann Professor Menahem Naor. Simha wurde 1899 als Stella Silberstein in Wien geboren. Als Häftling Nr. 80.574 hat sie Auschwitz überlebt. Ihre Tagebuchnotizen aus den Jahren 1938 bis 1945 wurden nun im Verlag Herder veröffentlicht.

Der Besuch aus Österreich freut sie, und sie sagt es mit dem unverwechselbaren Wiener Dialekt. Doch „der österreichische Staat ist für mich gestorben". Das erste Kapitel ihres Buches beginnt mit den Sätzen: „In Wien geboren und aufgewachsen; Wien, mein Wien… Ich war eine glühende Lokalpatriotin gewesen…

Volksschule, Gymnasium, Universität; Burgtheater, Oper; Prater, Wienerwald, Schönbrunn, Donau, Türkenschanze… wie sehr hatte ich meine Geburtsstadt geUebt!"

Aus Osterreich vertrieben, die Geschäfte der Eltern und Verwandten „arisiert", der Ehemann, der Wiener Arzt Richard Borger, von den Nazis ermordet, sie selbst dem KZ entkommen - die Lokalpatriotin meinte, von ihrer Heimat Wiedergutmachung erwarten zu können. „Ich habe alle Dokumente nach Wien geschickt, alles wurde abgelehnt"

Einmal erreichte sie in Amerika eine Einladung der Stadt Wien zu einem „Treffen". Die Reisespesen hätte sie allerdings selbst tragen müssen. Nur bei absoluter Mittellosigkeit, die nachzuweisen gewesen wäre, wollte man versuchen, die Fahrtkosten zu ersetzen. Sie hat verzichtet.

Einmal war Simha Naor, die kurz nach dem Einmarsch Hitlers Wien mit der auf der Polizeidirektion erzwungenen eidesstattlichen Erklärung, „nie wieder österreichischen Boden zu betreten", verließ, doch wieder hier. Ihr Mann hat darauf bestanden, „daß ich mir diesen Tick ausrede, denn ich wollte nichts mehr von Wien wissen. Solange hat er mich gepeinigt, bis ich einverstanden war, nach Wien zu fliegen."

Stella Silberstein, die in Wien Physiotherapie studiert hat, flieht 1938 über Italien nach Frankreich. Als die Deutschen das Land besetzen, versucht sie unterzutauchen, wird aber verhaftet. Zuvor hatte ein Elsässer Rabbiner sie ,mit dem Wiener Arzt Richard ‘ Borger getraut. Bald wird auch er verhaftet, Stella nach Auschwitz-Birkenau deportierte Dort trifft sie den KZ-Arzt Mengele, erlebt die Grausamkeiten der Kapos, der SS, vieler nichtjüdischer Mithäftlinge. Im Jänner 1945 wird sie in das KZ Bergen-Belsen überstellt, am 15. April von britischen Truppen befreit - und erfährt vom Tod ihres Mannes. Bis Dezember 1945 bleibt sie noch im Spital von Belsen, um als Krankenschwester und Physiotherapeutin Hilfsdienste zu leisten.

Ein britischer Feldrabbiner gibt ihren Geschwistern in Palästina Nachricht von ihrem Uberleben. Mit Sehnsucht erwartet sie das Einreisevisum. Am 17. Mai 1946 betritt sie ihre neue Heimat, im September beginnt sie als Heil-^nmastin und Masseuse in Tiberias zu arbeiten, „wie ein Pferd,

nichts anderes gekarmt als Arbeit, mit der Arbeit habe ich meine Erinnerungen abgeblockt. Ich wollte vergessen."

In der Zeit von Israels Staatsgründung greifen Araber den Bus an, in dem Simha von Jerusalem nach Tiberias fährt. Eine Frau neben ihr wird tödlich getroffen. „Ich habe mir gesagt, es passiert wenigstens bei uns."

1947 hat Simha Menahem Naor geheiratet. Der gebürtige Russe ist 1921 nach Palästina ausgewandert. 1967 wird er für zwei Semester auf eine Gastprofessur in die USA eingeladen. Daraus sind zwölf Jahre geworden. Erst seine Pensionierung brachte die von ihr ersehnte Rückkehr.

Ihre handschriftlichen Tagebuchnotizen lagen immer noch fest in einer Schachtel verwahrt. „Irgendwie haben aber die Kinder meiner Geschwister von dieser Schachtel erfahren und mich gedrängt, mein Tagebuch zu veröffentlichen. Dann habe ich eines Tages gesagt, nehmt alles und macht damit, was ihr wollt."

Das Institut von Yad Vashem bereitet eine tJbersetzung ins Hebräische vor. „Das alles wühlt mich sehr auf, ich wollte mit diesem Teil meiner Vergangenheit nichts mehr zu tun haben."

KRANKENGYMNASTIN IN AUSCHWITZ. Von Simha Naor. Aufzeichnungen des Häftlings Nr. 80.574. Vorwort: Tisa von der Schulenburg. Herderbücherei.

Wie soll man stumm bleiben angesichts tendenziöser^ Vergeßlichkeit, wenn das Geschwätz von Leuten gar zu laut wird, deren Gedächtnis liebedienerisch versagt, wo die Erinnerung am dringendsten vonnöten ist. Was bleibt den alternden Söhnen und Töchtern eines verwaisten Volkes? Eine Gewißheit, die so unfaßlich ist wie die unseres eigenen Todes.

MANES SPERBER

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