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Haiku, Zen und die neue Poesie

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Im Jahre 1930 erschien in Wien ein Bändchen japanischer Haiku-Gedichte. Es trug den Titel „Ihr gelben Chrysanthemen“ und brachte Nachdichtungen der österreichischen Sinologin und Japanologin Anna von Rottauscher. Ein kurzes Nachwort sprach noch vom Wesen dieser Dichtungsgattung, machte mit den Lebensdaten von deren bedeutendsten Vertretern bekannt und auch damit, daß es sich dabei um eine lyrische Aussage handelte, die seit Jahrhunderten in Japan gepflegt wird.

Vier farbige Bildtafeln nach alten japanischen Meistern ergänzten die kleinen Wortkunstwerke, deren Bildhaftigkeit sofort be-

rührte. Die Stimmung, die aufkam, war die der Stille. Das gab nicht nur Trost, sondern auch Zuversicht. Und leise öffnete sich ein Zugang ins Reich der Besinnung.

In Zeiten von Erschütterungen steigt der Bedarf an solchen Büchern. Aus dem Leid kommt die Sehnsucht nach Stille. Darin erinnert sich der Mensch der Tiefen seiner Existenz und erreicht auch manchmal den Grund seines Wesens, in dessen Geborgenheit ihm zur Gewißheit wird, daß er mit jedem anderen Geschöpf und mit dem Schöpfer selbst verbunden ist. „Wer weiter nichts als die Kreaturen erkennet“, sagt Meister Eckehart, „der brauchte an keine Predigt zu denken, denn jegliche Kreatur ist Gottes voll und ist ein Buch“. An einer andern Stelle lesen wir noch:_„Leersein von Kreatur ist Gottes voll sein, und Vollsein mit Kreatur ist Gottes leer sein“.

Nicht also, daß hier der Mystiker mit Kreatur die bloße Leiblichkeit gemeint hat. Erkennbar ist für ihn die Kreatur erst dann, wenn sie sich offenbart, das heißt, wenn sie in ihrem Wesen sichtbar wird. Im Wesen sichtbar bedeutet durchsichtig sein. Das „Erkenne dich selbst“ fordert, daß das Ich sich vom Gegenständlichen befreie und dadurch dem Geistigen öffne, welches allein die Materie bewältigen und die Freiheit wiederbringen kann. Darin bewegt der einzelne sich selbst, wirkt in sich selbst und bewirkt die Veränderung und Vervollkommnung des eigenen Wesens im Sein. In diesem Zusammenhang spricht Meister Eckehart davon, daß dem, der die Geschöpfe fliehe, Gott zulaufe, daß also Abgeschiedenheit das Ajllerbeste sei. Am schnellsten, fügt er hinzu, käme jener „zur Vollkommenheit“, der das „Tier“ des Leids besteige. So kann in seiner Zeitlichkeit nur der zum Höchsten gelangen, der ständig bereit zum Verzicht ist.

Soviel wenigstens muß gesagt werden im Hinblick auf das Abendland und seine in deutscher Sprache denkenden Menschen. Wie wäre nämlich sonst zu verstehen, daß ein aus dem Zenbuddhismus lebender japanischer Geist im Westen Eingang finden kann? Das leibliche Zuhause ist gewiß verschieden, die Landschaft aber, in der die Seele beheimatet ist, scheint überall und wesentlich die gleiche zu sein. Wie viele leben in ihr? Ist es nicht so, daß der Fortschritt weltweit zur Vermassung und Versteinung geführt hat?

Der Mensch im Fernen Osten lebt — wer weiß, wie stark noch — in der Verbindung mit dem Symbol der aufgehenden Sonne. Sie bringt, nach Übergängen, auf einmal aber plötzlich Licht in die Finsternis. Immer wieder. Ist die Zahl derer, die die helle Landschaft der Seele bevölkern, in Japan größer als im Westen?

Gewiß führt die Übung des Zen, wie jede Askese, zu eminenter Geistigkeit. Der einzelne weiß: Ich bin auf mich allein gestellt. Der Meister zeigt nur den Weg. Dem Suchenden bleibt also nichts erspart. Zunächst. In letzter Sicht jedoch sehr viel, wie wir von einem Missionar erfahren, den Karlfried Graf Dürckheim in Japan getroffen und über seine Arbeit befragt hat. Es gäbe nur selten echte Bekehrungen, aber auch dann stürben diese Menschen japanisch. Es sei nämlich bei ihnen, als stellten sie, wenn sie in diese Welt kommen, nur einen Fuß hinüber auf das Ufer dieses Lebens, und so, als verlören sie zeitlebens nie das Gefühl, im Grunde auf dem andern Ufer zu Hause zu sein. „Sterben“ bedeute dann nichts anderes als den Fuß, den sie in dieses Leben gestellt haben, wieder zurückzuziehen. Und das geschehe denn ganz selbstverständlich, heiter und ohne jede Angst.

Die Stärke des vom Zen geformten Wesens ist, wie Dürckheim bemerkt, „das Ernstnehmen der übernatürlichen Erfahrung und die natürliche Offenbarung. Sie wird dem Menschen nur jenseits der Grenzen seiner natürlichen

Kräfte geschenkt und trägt nur dort ihre Früchte, wo der Mensch bereit ist, sein inneres Erleben ernst zu nehmen und der Stimme seines Gewissens zu lauschen“. In dieser östlichen Weisheit liege denn auch die heute in vielen Abendländern lebendige Ahnung, daß man an eine höhere göttliche Wirklichkeit nicht bloß zu glauben habe, sondern daß diese schon als dem irdischen Leben innewohnend zu spüren sei.

Das Zen prägt also eine Lebensart. Daraus entspringt und ihr entspricht die Dichtung des Haiku, die sich absetzt von den üblichen Erscheinungen der Literatur. Sie braucht vor allem keinen Schreibtisch. Ein Blatt Papier genügt. Und die Hand mit den fünf Fingern, um im Gehen die Silben zählen zu können.

Ein Haiku-Dichter der Haijin, wie er in Japan genannt wird, war ursprünglich ein wandernder Mönch, ein in sich und in die Natur versunkener Einzelgänger. Äußerlich meistens verwahrlost, war er in seinem Innern umso sauberer und derart ausgeräumt und aufgeräumt, daß er die Heiterkeit des Himmels in sich zu haben schien. Er ist es auch heute noch, und die gelungenen Verse dieser mehr als tausend Jahre bestehenden Dichtungsart haben nach wie vor die gleiche Frische.

Die Kürze dieser Dichtung entspringt der Strenge gegen alles, was das Wesentliche stört. Die in langer Meditation entstandene Reinheit bringt es mit sich, daß das Haiku denen, die mit einer dermaßen aufs Notwendige beschränkten Denkungsart nicht vertraut sind, sehr oft zu einfach, ja banal erscheint. Allmählich erst erschließt sich dem Nichteingeweihten, und bisweilen nicht nur ihm, das Sinnhafte der Bilder, die ihrer Anlage nach dem Betrachter und Hörer mit der Zeit begreiflich machen, worauf sie deuten und was sie be-deuten.

Ein Bild, das als Eindruck sinnfällig wird, verliert in der Vollendung alles, was sein Wesen verstellt; gerade dadurch aber ge winnt es in seinem Ausdruck. In den so entstehenden Zwischenräumen — man denke an die japanische Malerei, die sich aufs Wesentliche beschränkt, mit wenigen, ganz feinen Pinselstrichen — atmet fühlbar das Innerste der Dinge, als Duft, als Klang, als Licht und Schatten, als ein Wehen und Verwehen, Fließen, Verfließen, Raunen und Rauschen, als jenes Fluidum, welches immer die wahre Dichtung bestimmt.

Daß in Japan den Freunden des Haiku mehr als fünfzig Monatsschriften zur Verfügung stehen, in denen jeweils an die 80.000 Drei- zeiler erscheinen, so daß jährlich .nahezu eine Million Haiku das Licht der Welt erblicken dürfte, beweist sehr deutlich, um wieviel mehr sich dieses Volk an der Suche nach der Wahrheit beteiligt als der westliche Mensch, der sich erst jetzt wieder zu besinnen beginnt.

Die Frage, wie dieser oder jener gestorben sei, in welcher geistigen Verfassung, wird in Europa immer häufiger gestellt; Kreise, die sich mit Meditation befassen, sprengen erstarrte Traditionen; sogar die Wissenschaft ist schon bemüht, dem Unwägbaren und doch Vorhandenen Rechnung zu tragen; die Dichtung verzeichnet eine Zunahme der lyrischen Aussage, obgleich in ihr das Begriffliche, Harte und immer wieder das Ich noch im Vordergrund steht und in Sentenzen sich aufdrängen will.

Nichts von dem allen hat im Haiku zu sein. Sonst ist es keines, sondern bestenfalls ein Epigramm, ein Aphorismus, eine Allegorie, ein Gleichnis oder überhaupt nur eine schlichte Impression. Das zeigen uns die Japaner. Wie seinerzeit Meister Eckehart als Lehrmeister, mehr noch, als „Lebemeister“ geschätzt worden ist, so muß heute, im Hinblick auf das deutsche Haiku, diese Rolle den Meistern des Fernen Ostens zugestanden werden, die, staunend vielleicht, darin schon manche Eigenständigkeit feststellen können. Von höchstem Interesse für die abendländische Haiku- Dichtung ist deshalb die in Japan erschienene „Anthologie der deutschen Haiku“. Was hier aus den in deutscher Sprache vorliegenden Sammlungen, aus Zeitschriften, Zeitungen und Privatdrucken ausgewählt worden ist, ist daher durchaus vertretbar. Hier auf die Geschichte des Haiku in deutscher Sprache einzugehen, würde zu weit führen. Sie ist eine lange, beginnend mit Paul Ernst, Arno Holz, Alfred Mombert, Rilke, Franz Blei, Max Dauthendey und Iwan Goll, ohne die strenge Form noch, aber bildhaft und in Räumen, die ein intensives, nicht zu fassendes Leben verraten.

Seit den sechziger Jahren bildeten Haikujünger eigene Kreise. Man sagte, das Haiku kursierte nur unter Eingeweihten, beschränkte sich auf wenige Begeisterte. Immerhin, die „Haiku“ der damals siebenundsechzigjähri- gen Imma von Bodmershof kamen doch heraus. H. C. Artmann, Klaus Hoffer, Hajo Jappe, Alois Vogel, Ernst David schreiben Haikus, um nur einige Namen zu nennen. Heute werden Haiku-Gedichte auch im österreichischen Fernsehen gebracht.

Interessant scheint zu sein, daß diese Dichtung sich besonders in Österreich eingelebt hat. Ob der stärkere Hang zum Bild solches bewirkt, zum Klang, zur Lyrik, die bei uns gerne in Prosa und Drama einfließt, und die Art, sich zwischen Extremen zu bewähren, der Hang deshalb zur Stille in der Natur und zum Mythos?

Die Seelenlandschaft ist wahrlich reich an Abwechslungen — wir denken an die Million japanischer Haiku im Jahr. Wichtig ist nur, in sie hineinzufinden, in ihre Einsamkeiten nämlich. Der Einsame, er sieht und hört ja alles. Es ist ein Kommen und Gehen in ihm. Was in der Natur und überhaupt um ihn herum ist, meldet sich an, will erkannt und zum Sinnbild werden, zu jenem Bild, das der Mensch entwirft, auf daß es zur Erfahrung werde.

Der Autor ist Professor an der Universität Rom.

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