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Handschlag ohne Scheu

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Zu einem bisher einmaligen Dialog zwischen Christen und Juden kam es am 12. Oktober in der Wiener Nationalbibliothek. Auch andere Menschen sollen die Worte hören können.

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Zu einem bisher einmaligen Dialog zwischen Christen und Juden kam es am 12. Oktober in der Wiener Nationalbibliothek. Auch andere Menschen sollen die Worte hören können.

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Es war das Auftauchen erschreckender antisemitischer Tendenzen in den politisch bewegten Wochen vor dem Sommer, das den Anstoß zu dieser Veranstaltung gegeben hat.

Die Fähigkeit, sich zu erinnern, und der Akt tatsächlicher Erinnerung prägen den Menschen. Wir wollen nicht vergessen! Wir wollen nicht den Mantel eines vorgeblich barmherzigen Schweigens rasch über das ziehen, was vor dem Sommer, bedacht oder unbedacht, an antisemitischen Gefühlen wachgerufen wurde.

Doch unsere Begegnung soll mehr sein als eine Stunde kurzfristiger Selbsterforschung und Rechenschaft. Die Besinnung, um die es uns hier geht, muß weiter reichen. Nach Auschwitz, so meine ich, ist es dem Christentum nur mehr möglich, seine Identität im Angesicht der Juden zu büden.

Ein besseres Fundament für das gegenseitige Verständnis kann es nicht geben, als daß unsere beiden Religionen die andere ohne besondere Anstrengungen und im Einklang mit ihren eigenen Werten verstehen und annehmen können.

Noch wichtiger aber als diese Erkenntnis an sich wird es sein, sie bis zu den einfachsten der Gläubigen, bis ins letzte Dörfchen zu tragen und ihr überall zum Durchbruch zu verhelfen.

Um in der Tagesaktualität zu bleiben: Für ein politisches Gespräch mag ein „Gipfeltreffen“ das höchste der Gefühle sein; für das Treffen zweier Bekenntnisse ist es wichtig, daß das heübrin-gende Wasser, das in den Höhen seine Quellen hat, auch bis ins Tal hinabfließen kann und rein in alle Häuser und Herzen gelangt!

In den vorangegangenen Tagen, nämlich zwischen unserem Neujahrstag Rosch Haschanah und dem Versöhnungstag Jom Kippur ist uns aufgetragen, unser Gewissen zu erforschen und es ist uns verheißen, daß Einsicht, Gebet und gute Taten unser Schicksal zum Guten wenden können. So vorbereitet — unserer eigenen Schwächen, Fehler und Un-vollkommenheiten bewußt und doch voller Hoffnung auf ein gütiges Geschick — ist uns geboten, uns unserem Nächsten zuzuwenden, Vergebung zu heischen und Versöhnung zu bieten.

Wenn Ihnen, hebe christliche Freunde, diese Gedanken, Vorstellungen und Uberzeugungen nicht ganz fremd sind, so finde ich das weder seltsam noch erstaunlich. Es sind die gemeinsamen Wurzeln eines Ethos, das sich in Gott gründet und in der Humanitas des Menschen entfaltet; eines Menschen, der, lernfähig und lernwillig, sein Gewissen erforscht und sein Schicksal bestimmt — so Gott es will.

In diesem Sinne begrüße ich diese Veranstaltung als den Beginn eines Weges, auf dem wir eine entgegengestreckte Hand ohne Scheu ergreifen.

Bemühen wir uns um ein wahrhaft brüderliches Verhältnis — in der Erinnerung an unendliches Leid und Schuldverstrik-kung in der Vergangenheit, aber nicht in einer Erinnerung um ihrer selbst willen, sondern in einer Erinnerung zur Uberwindung des Schrecklichen und zur Stärkung unserer gemeinsamen Hoffnung.

Dies ist auch eine konkrete Aufgabe in unserem gemeinsamen Vaterland Österreich.

Ich bin beglückt darüber, hier danken zu können, auch denen, die uns ganz nüchtern gezeigt haben, was da an Bösem, an Ungerechtem, an Frevel gegenüber dem Menschen, der ein Ebenbild Gottes sein sollte, geschehen ist.

Aber ich glaube, es hat keinen Sinn, an die Brust der Vorfahren zu klopfen. Das einzig Sinnvolle ist, zu wissen, wie das im Lauf der Geschichte entstanden ist und es in aller Nüchternheit zu sehen, sich aber dann an die eigene Brust zu klopfen und etwas zu tun.

Israel, dieses Volk Gottes, das so viel zu erleiden hatte und immer wieder hart gestraft worden ist, Israel hat immer wieder die Liebe seines Gottes erfahren — denn die Treue Gottes ist größer als alle Schwäche und alle Sünde der Menschen.

So dürfen wir diesem Volk danken, daß es seinen wahren Glauben bewahrt hat, trotz aller schrecklichen Erfahrungen und Heimsuchungen auch von Glaubenden oder solchen, die meinten, sie wären Glaubende.

An uns wird es Hegen, mehr als nur einen Sehritt zu tun. Es wird noch viel um die Kraft Gottes gebetet werden müssen. Nur in seiner Kraft können — vom Propheten symbolisch gesehen — aus Knochen, die da ausgebleicht liegen auf dem Felde, wieder Menschen werden nach Gottes Geist. Nur in seiner Kraft kann das Reich Gottes in seiner Gnade die Menschen wandeln.

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