6997570-1987_14_06.jpg
Digital In Arbeit

Harter Kampf der Ideen

Werbung
Werbung
Werbung

Ohne umwerfende Ergebnisse endet die erste offizielle Visite von Margaret Thatcher im Kreml. Der Besuch bedeutet dennoch eine Wende in der anglo-sowjetischen Beziehung.

In einem günstigen Verhandlungsklima, das offiziell die Attribute „direkt, unverblümt, aber in keinem Augenblick feindselig" erhielt, gewann beim Treffen der britischen Premierministerin vom 28. März bis 1. April mit Michail Gorbatschow gegenseitiges persönliches Verständnis über die tiefgreifenden ideologischen Differenzen die Oberhand.

Für Parteichef Gorbatschow ist die britische Premierministerin angesichts ihrer besonderen Beziehungen zum Weißen Haus in Washington das engste ihm ver-

fügbare Bindeglied zvim Führer des Westens. Für Margaret Thatcher ist der Kremlchef der erste Sowjetführer, mit dem sie „Geschäfte machen kann".

In Moskau konnte sie zum ersten Mal aus direkter Quelle über die gesellschaftliche Umgestaltung erfahren, die sich mit dem Namen Gorbatschow verbindet: erst die offizielle Version im Katharinensaal der einstigen Zarenfestung und dann die inoffizielle, jene der neuen sowjetischen Wirklichkeit, durch das geistige Haupt der Bürgerrechtsbewegung, Nobelpreisträger Andrej Sacharow, beim Essen in der Britischen Botschaft.

Beiden Politikern schien es schwerzufallen, den Gesprächsfaden abzubrechen und andere Verpflichtungen zu erfüllen. Die Zuschauer im Bolschoi-Theater mußten Sonntag nach der Pause längere Zeit auf die Fortsetzung des Balletts „Schwanensee" warten, weil die beiden im Meinungsaustausch vertieft waren.

Am Montag konferierten Thatcher und Gorbatschow insgesamt neun Stvmden miteinander, die längste Sitzimg der Britin überhaupt mit einem ausländischen Politiker. Dem Kremlchef bedeutete die Premierministerin das Sprachrohr zu Reagan.

Nukleare Abrüstung und Kontrolle des beschleunigten Rüstungswettlaufs, für Gorbatschow ein politisches, vor allem aber wirtschaftliches Muß, bildeten naturgemäß das Zentrum der Gesprächsrunden. Er konzediert dem Gast die Ausklammerung der britischen Abschreckungswaffen auf den INF-Verhandlungen, die Thatcher ohnedies nicht aufgeben will, solange hundertprozentige Sicherheitsgarantien ausbleiben.

Der Gastgeber ist der Forderung nicht abgeneigt, die Möglichkeit der Beseitigung von Mittelstreckenraketen (INF) auf dem europäischen Kontinent auf die Waffen der kürzeren Distanz auszudehnen, ohne allerdings eine formelle Verbindung der beiden Komplexe zu erlauben. Reagans Aufgabe von „Star Wars" ist schon seit Ende Februar nicht mehr das unüberwindliche Hin-

dernis auf dem Wege zu einem Abbau der Atomraketenarsenale.

Thatcher will noch mehr: eine Ausweitung auf die konventionellen Waffen, Schaffung eines Kräftegleichgewichtes auf dem Kontinent durch Verringerung der sowjetischen Ubermacht bei nichtnuklearen Waffen. Eine Welt ohne Atomwaffen sei ein Traum, sagte Margaret Thatcher in der Tischrede beim Bankett im Kreml; aber auf einem Traum könne sie die Verteidigung ihres Landes nicht aufbauen. Gorbatschow schlägt bei diesem Anfall von „Megaphon-Diplomatie" zurück: nukleare Abschreckung im Sinne von Thatcher sei eine Politik der „Erpressung und Bedrohung".

Das delikate Thema Menschenrechte wurde von Thatcher keineswegs ausgespart. Der Besuch im spirituellen Zentrum der Orthodoxie, in Zagorsk, ist ein Zeichen der Solidarität mit Christen in eineci atheistischen Staate. Die Mahnung, der Entlassung von Gefangenen aus Gewissensgründen weitere Befreiung aus sibirischen Lagern und Gefängnissen folgen zu lassen, ergeht an den Gastgeber sowohl unter vier Augen wie in der - von den sowjetischen Medien bis zur Unkenntlichkeit um alle strittigen Passagen gekürzten — Tischrede. Das würde eine Vertrauensbasis schaffen, die ihm, Gorbatschow, in der Außenpolitik zugute käme.

Der Parteichef sträubt sich nicht gegen die Prüfung von Erfüllung oder Vorenthaltung der Menschenrechte, vorausgesetzt, daß auch Verletzungen im Westen aufs Tapet gebracht werden. An die britische Adresse gerichtet: Nordirland, Arbeitslose und soziale Ungerechtigkeit.

In diesem Sinne wurde die Britin von Sowjetjournalisten im sowjetischen Fernsehen - eine Premiere der neuentdeckten Offenheit - in die Schranken gewiesen. Das Bemerkenswerte liegt allerdings darin, daß eine ausländische Führerin vor den Augen der sowjetischen Öffentlichkeit ungehemmt über Dissidententum, Bürgerrechte und schließlich auch über Afghanistan reden kann.

In der charakterlichen Einstellung sind sich die beiden Gesprächspartner im Kreml auffallend gleich. Aber sie fochten ihre Differenzen flexibel und aufgeschlossen aus.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung