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Hat auch die Madonna gestreikt?"

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Durch die dramatischen Ereignisse in Polen ist vorerst eine grundsätzlich neue Lage entstanden. Sie betrifft auch die Kirche und stellt sie vor ein fast unlösbares Dilemma.

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Durch die dramatischen Ereignisse in Polen ist vorerst eine grundsätzlich neue Lage entstanden. Sie betrifft auch die Kirche und stellt sie vor ein fast unlösbares Dilemma.

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Am Tor der Lenin-Werft in Danzig, in der die Arbeiter streikten, hing auch ein Bild der schwarzen Madonna von Tschenstochau. Als Kardinal-Primas Stefan Wyszynski am Dienstag, dem 26. August, auf dem Jasna-Göra eine Rede hielt, klebte am nächsten Morgen beim Muttergottesbild am Werfttor ein Zettel mit der Aufschrift: „Auch die Madonna streikt."

Der wohl prägnanteste Ausdruck dafür, daß die streikenden Arbeiter, die Messen am Werftsgelände gefeiert und Rosenkränze gebetet hatten, mit respektvoller Enttäuschung die Rede des Primas zur Kenntnis genommen hatten. Was hatte Wyszynski gesagt?

Er hatte gemeint, daß die Forderungen der Arbeiterschaft „im allgemeinen gerechtfertigt" seien, jedoch hinzugefügt, daß die Erfüllung der Anliegen nur in Etappen geschehen könne.

Er hatte sich zwar für das Streikrecht ausgesprochen, aber auch an die „Belastungen für die Volkswirtschaft" durch

einen Ausstand erinnert. Er verstehe die Unruhe, es sei aber auch notwendig, den Aufbau des Landes in Ruhe und Ordnung, mit Bedacht und Umsicht fortzuführen.

„Der Kardinal-Primas fand nicht ein einziges Wort der Ermunterung für die Streikenden", beklagte ein prominenter katholischer Intellektueller. Und ein Priester in Danzig meinte in unendlicher Bitterkeit, die Rede Wys-zyriskis lasse sich kurz in drei Worte zusammenfassen: „Arbeit macht frei."

Die Reaktion auf die Primas-Rede war fast einhellig und durchgehend negativ - sie reichte von Enttäuschung bis zu offener Kritik.

Daß die Rede Wyszyrtskis im polnischen Fernsehen und Radio übertragen, sogar in Auszügen von der offiziellen Nachrichtenagentur PAP gebracht wurde - davon will der Primas voraus nichts gewußt haben. „Das ist eine schwache Verantwortung. Was heißt, er hat es nicht gewußt? Er mußte doch damit rechnen!" ereifert sich ein engagierter Katholik.

Auch der Hinweis, die staatliche Zensur habe „integrale Teile der Rede" herausgeschnitten, überzeugte die Katholiken im Land an der Weichsel nicht. „Die fünfzig Minuten der Primas-Rede wurden um 15 Minuten gekürzt, das ist wahr! In dieser Viertelstunde war Kritik an der Religionspolitik der Regierung enthalten. Der Primas hat aber in den ausgestrahlten 35 Minuten kein Wort des Trostes und der Ermunterung für die Streikenden gehabt", analysieren katholische Intellektuelle.

Diese wurden denn auch nach der Primas-Rede aktiv. Mit allem Respekt intervenierten sie und brachten ihre Argumente vor - mit dem Resultat, daß einen Tag später der Rat der Bischofskonferenz in Tschenstochau ein Dokument beschloß, in dem auch ausdrücklich das Recht auf „Gründung repräsentativer Gewerkschaften" hervorgehoben war. Genau darauf hatten die streikenden Arbeiter gehofft. Der Primas hatte sie enttäuscht, das Bischofskollegium nicht.

Die große Debatte innerhalb katholischer Kreise, wie sehr sich der Primas mit seiner Rede selbst und auch der Kirche geschadet habe, begann. Als kleinster gemeinsamer Nenner kam dabei heraus, daß der Primas in der Vergangenheit soviel an Kredit und Glaubwürdigkeit bei Bevölkerung und Arbeitern gesammelt hätte, daß der momentane Verlust langfristig nicht ins Gewicht falle.

Es gab aber auch einen, der geradezu vehement gegenüber katholischen Intellektuellen den Primas und seine Rede verteidigte - und das war ausgerechnet Adam Michnik, Soziologe und Linksoppositioneller, einer der Chefdenker der Untergrund-Gruppe KOR.

Michnik meinte, der Primas habe in der im Fluß befindlichen Lage gar nicht anders sprechen können, als denn als Diplomat, Staatsmann und Realpolitiker. Er habe vorsichtig und zurückhaltend sein müssen. Der Primas dürfe sich prinzipiell nicht in aktuelle Politik engagieren, sondern müsse stets grundsätzlich argumentieren. Ein politisches Bündnis zwischen Kirche und streikenden Arbeitern hätte in der dramatischen Situation in Danzig die Führung kopfscheu werden lassen können.

Ungeachtet dessen, daß „der Realpolitiker Wyszynski falsch eingeschätzt hatte, was passieren kann, und daher zu vorsichtig agierte" (so ein ehemaliger katholischer Parlamentsabgeordneter in Warschau), spielte die polnische Kirche insgesamt eine Rolle in den dramatischen Tagen.

Da sich die linksoppositionelle KOR-Gruppe (wie verabredet) mit dem Beginn und dem Ausufern des Streiks an der Ostseeküste vom Streik weitgehend zurückzog, um nicht der Parteiführung den Vorwand Tür die Etikettierung des Ausstandes als „antisozialistisch" zu geben, entstand ein intellektuelles Vakuum. In dieser Situation griff die streikende Arbeiterschaft, die wußte, ohne Intelligenz der Regierungskommission in den Verhandlungen nicht gewachsen zu sein, auf die katholische Intelligenz zurück.

Der Chefredakteur der christlichsozialen Monatsschrift „Weiz", Tadeusz Mazowiecki, wurde Chef des intellektuellen Beraterkomitees der Streikenden in Danzig. Auch der Primas hatte einen Sonderdelegierten in dieser Berater-Gruppe. Aus dem „Klub der katholischen Intelligenz" kamen wichtige Berater, wie Prof. Cywinski und Prof. Geremek und andere.

So hat also zwar nicht der Primas, wohl aber die Gesamtheit der Bischöfe (durch ihr Dokument von Tschenstochau), Priester, und engagierter, katholischer Laien - und somit die Kirche -einen gewissen Einfluß auf die Verhandlungsergebnisse von Danzig und die Entwicklung in Polen genommen.

Und auch der Primas hat schließlich das Heft wieder in die Hand genommen: Er empfing Streikführer Walesa in Sonderaudienz und hat in einem Hirtenschreiben an alle Diözesen in Polen unterstrichen, daß die Erneuerung in Polen die vollkommene Freiheit der Kirche, den Vorrang der Familie und das „Recht der Organisationsfreiheit" zur Grundlage haben müsse.

Ist damit alles wieder im Lot? Wie kann und muß sich die Kirche in Zukunft im „neuen Polen" verhalten, welche Rolle fällt ihr zu?

Der katholische Schriftsteller und Journalist Stefan Kisielewski dazu: „Alle unabhängigen Dissidentengruppen suchten in der Vergangenheit immer wieder die Unterstützung der Kirche - und die Kirche ist mit Recht auf eine gewisse Distanz gegangen. Nun, in der neuen, entstandenen Lage, mit dem, was erkämpft wurde, kann die Opposition auch unabhängig von der Kirche operieren."

In der polnischen Kirche insgesamt scheinen sich, als Reaktion auf die neue Lage, laut Kisielweski zwei Tendenzen herauszubilden. Die eine, die nun für eine aktivere, noch mutigere, entschiedenere Opposition der Kirche eintritt; die andere, die nach wie vor der Meinung ist, man müsse so wie bisher zwar

beherzt, aber eher still, eher diplomatisch, als laut und vor allem ohne Bündnis mit anderen Kräften den Staat in die Schranken weisen.

Genau vor diesen zwei möglichen Alternativen stand übrigens Wyszyn-ski, als er seine Rede in Tschensto-chau hielt. Er entschied sich zur Vorsicht.

Das grundsätzliche Dilemma ist jedoch auch im „neuen Polen" mit seinen unabhängigen Gewerkschaften, seiner Zensurlockerung usw. geblieben.

Soll die Kirche sich der neuen Lage anpassen und damit auch in gewisser Weise politisch aktiv werden und riskieren, daß bei einem Scheitern des Experimentes auch die Kirche (und vieles, was sie bisher erreicht hat) mitscheitert?

Oder soll man gelassen die Entwicklung abwarten, vorsichtig und bedächtig-zäh agieren wie in den vergangenen 35 Jahren, damit aber jetzt Gefahr laufen, als zunehmend systemkonform eingestuft zu werden, den Rückhalt bei den Massen zu verlieren, eine Entwicklung zu versäumen, hinterher zu hinken? Wofür sich entscheiden - für die langfristige und verantwortungsbewußte Sorge um die Nation und eine allzu nüchterne Einschätzung der Realitäten? Oder für das beherzte, wagemutige Mitgestalten des „neuen Polen" in vorderster Front?

Auch der Kirche Polens stehen schicksalträchtige, schwerwiegende Entscheidungen bevor.

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