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Hat die Wehrpflicht eine Zukunft?

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Im Rahmen einer gesamteuropäischen Sicherheitspolitik mit festen Sicherheitsstrukturen verliert - wie viele sagen - auch die allgemeine Wehrpflicht ihre Bedeutung. In Österreich haben Mitarbeiter der Landesverteidigungsakademie den Diskussionsboden - abseits von tagespolitischen Äußerungen - dafür schon vorbereitet.

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Im Rahmen einer gesamteuropäischen Sicherheitspolitik mit festen Sicherheitsstrukturen verliert - wie viele sagen - auch die allgemeine Wehrpflicht ihre Bedeutung. In Österreich haben Mitarbeiter der Landesverteidigungsakademie den Diskussionsboden - abseits von tagespolitischen Äußerungen - dafür schon vorbereitet.

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Seit dem Zerfall kommunistischer Diktaturen, der Auflösung des Warschauer Paktes und nicht trotz, sondern gerade infolge des Golfkrieges mehren sich die Anzeichen für eine allgemeine Aufweichung und schließlich Preisgabe der Wehrpflicht als „Staatsbürgerpflicht".

Je undemokratischer ein politisches System, desto rigoroser in der Regel die Handhabung der allgemeinen Wehrpflicht - nicht zufällig geriet sie in bis vor kurzem kommunistischen Staaten am deutlichsten ins Wanken.

Wo man sie - wie in den USA oder in England - zugunsten des Prinzips der Freiwilligkeit aufgab, erleben weder die militärischen Kräfte noch die Demokratie Einbrüche. Wie das Beispiel Deutschand zeigt, waren Fragen des Einsatzes außerhalb des eigenen Territoriums im Zusammenhang mit dem Golfkrieg nicht nur für einzelne Wehrpflichtige, sondern auch im Hinblick auf das öffentliche Einverständnis von größter politischer Brisanz. Im Fall von Freiwilligen, Berufs-Soldaten oder Fremdenlegionären stellt sich die „Akzeptanzfrage" anders.

Selbst das Ausnahmebeispiel Schweiz scheint nach dem jüngsten Plebiszit für die Entkriminalisierung von Dienstverweigerern durch Einrichtungen einer zivilen „Dienstpflicht" auf dem Weg zur „Gleichwertigkeit" von Militär- und Zivildienst.

Sowie bei der geplanten Reform in Österreich fiele damit die grundsätzlich ohnehin bezweifelbare Prüfung von „Gewissensgründen" für die Waffendienstverweigerung, nicht aber der vom Staat nach wie vor als höher eingestufte Wert der militärischen Dienste. Damit wird nicht nur eine Entschließung des Europäischen Parlaments von 1989 über die gleiche Dauer von Wehr- und Zivildienst konterkariert, sondern auch dem empirisch nachweisbaren Trend widersprochen, wonach die Bevölkerung dem Zivildienst mindestens den gleichen, teilweise sogar den höheren gesellschaftlichen Wert beimißt als dem Wehrdienst.

Das Problem der Gleichbehandlung stand ja schon in den nicht enden wollenden Debatten über den Zugang von Frauen zum Dienst im Heer im Vordergrund. Daß die „Wehrgerechtigkeit" - schon bislang durch vielerlei Ausnahmen und Selektionsverfahren ein Trugbild - infolge der durch Rüstungsbeschränkungen und Einsparungen praktisch überall stattfindenden Reduktionen militärischer Potentiale zur Farce zu werden droht, erhöht die Wahrscheinlichkeit zunehmender Freiwilligen-Rekrutierungen über dem Sicherheitsnetz einer formalen Wehrpflicht. Für die Angst, ein professionelles Heer könne zum „Staat im Staat" werden, gibt es in modernen Demokratien mit dem Primat der Politik und funktionierenden Kontrollinstanzen nicht den geringsten Anhaltspunkt.

Obligatorischer Gesellschaftsdienst

Mit den zuletzt besonders in Deutschland diskutierten Plänen zur wahlweisen Einführung einer obligatorischen „allgemeinen Dienstpflicht" beziehungsweise eines „Gesellschaftsdienstes" als gleichwertige Alternative zum Militärdienst könnte künftig auch die weibliche Jugend problemlos in die staatliche Pflicht genommen und ihr zugleich der Waffendienst eröffnet werden. Darüber hinaus käme es zu spürbaren Entlastungen in vielen Bereichen der immer kostspieligeren sozialen Dienste, aber auch zum Ende der Konflikte zwischen Wehrdienst und zivilem „Ersatzdienst".

1990 in Deutschland erhobene Daten ergaben, daß mehr als die Hälfte der Jugendlichen einen obligatorischen „Gesellschaftsdienst" für Männer und Frauen anstelle der bisher auf Männer beschränkten Wehrpflicht akzeptierten. Nur gut ein Viertel der befragten 18- bis 28jährigen lehnte eine solche allgemeine Dienstpflicht ab.

Für Österreich liegen keine vergleichbaren Daten vor; es gibt widersprüchliche Vermutungen über die Folgen eines erleichterten Zuganges zum Zivildienst. Der Gefahr der personellen Auszehrung des Bundesheeres müßte jedenfalls mit materiell und ideell - Stichwort „Funktionserweiterungen" - erhöhter Attraktivität des militärischen Dienstes begegnet werden. Befürchtungen über mangelnde Bereitschaft können doch nicht der gesellschaftlichen Befindlichkeit, sondern müssen eigenen Fehlern angelastet werden. Wenn zum Beispiel England heute unter Hinweis auf den Wandel in Osteuropa sein Berufsheer um mehr als ein Viertel zu reduzieren trachtet -auch die US-Army speckt ab (siehe FURCHE 33/1991) -, dann wirken rein quantitative Befüchtungen bestimmter österreichischer Interessengruppen ebenso unglaubwürdig wie phantasielos.

Soll die Idee eines „Gesellschaftsdienstes" nicht in den Geruch eines „Arbeitsdienstes" unseligen Angedenkens kommen, muß die Demokratie- und Sozialverträglichkeit allgemein verbindlicher „Dienstverpflichtungen" sorgsam diskutiert werden. Ob in der demokratischen Gesellschaft die Balance zwischen Rechten und Pflichten eher im Prinzip der Freiwilligkeit oder dem des Zwanges zu finden ist, sollte eigentlich keine Frage sein.

Die allgemeine Wehrpflicht jedenfalls ist kein Eckpfeiler der Demokratie, sondern ein Relikt ideologischer und nationaler Antagonismen der vergangenen 200 Jahre. Viele Befunde der Umfragenforschung deuten darauf hin, daß sie in absehbarer Zeit zu jenen Zumutungen des Staates an seine Bürger zählen wird, gegen die sich zunehmende Kritik richtet. Darauf aufmerksam zu machen, gehört zu den Aufgaben einer Sozialwissenschaft, die nicht neuerlich zu spät kommen will, wenn es um die Prognose einschneidender gesellschaftlicher Entwicklungen geht.

Der Autor ist Lektor für Politikwissenschaft der Universität Wien und Mitarbeiter der Landesverteidigungsakademie.

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