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Digital In Arbeit

HATTEN MÖNCHE EINEN COMPUTER GEHABT

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Im 11. und 12. Jahrhundert galt die Abtei von Cluny in Burgund als die größte Steinkonstruktion der christlichen Welt. Sie sollte diesen „Titel" bis zum Wiederaufbau des Petersdoms in Rom vier Jahrhunderte später behalten. Nach der französischen Revolution mutwillig zerstört, kann Cluny dank grafischen Informatik-Anwendungen eine zweite Jugend erleben.

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Im 11. und 12. Jahrhundert galt die Abtei von Cluny in Burgund als die größte Steinkonstruktion der christlichen Welt. Sie sollte diesen „Titel" bis zum Wiederaufbau des Petersdoms in Rom vier Jahrhunderte später behalten. Nach der französischen Revolution mutwillig zerstört, kann Cluny dank grafischen Informatik-Anwendungen eine zweite Jugend erleben.

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Wie ein Symbol des spirituellen Siegeszugs des von den Kluniazen-sern verbreiteten neuen intelligenten, sanften und pazifistischen Humanismus erhebt sich inmitten eines grünen burgundischen Tals das größte steinerne Monument, welches von der christlichen Gemeinde je erbaut wurde - die den Heiligen Peter und Paul geweihte Abtei von Cluny, ein gewaltiges steinernes Bollwerk von bis dahin unerreichter architektonischer Kraft und bildhauerischer Vielfalt.

Im Detail: ein Mittelschiff von 177 Metern Länge, gemessen von der Vorhalle bis zum Kopfende der Ap-sis, ein doppeltes Querschiff in Form eines lothringischen Kreuzes, schwindelerregend hoch - „wie der Himmel" -, ein großzügig angelegter Chorumgang, ein Chor mit fünf strahlenförmig angeordneten Nebenkapellen und vier Seitenschiffe, unterteilt in elf Gewölbe-Segmente; ferner umfaßte das Bauwerk 68 Säulen, mehr als 1.200 Kapitelle so wie ein aus einem gewaltigen monolithischen Block gehauenes Tympanon.

Doch dieses Cluny ist nicht mehr: Wie jede von Menschen geschaffene Institution fiel auch die einst so mäch-

tige Abtei der Vergessenheit anheim. Die „Major Ecclesia" sollte das tragische Schicksal eines in Ungnade gefallenen Fürsten teilen: Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden. Auf einer Epoche von Macht und Ruhm ließ die unerbittliche Geschichte sieben Jahrhunderte später Erniedrigung und Verfall folgen. Stein für Stein wurde abgetragen, was einst der Stolz des Mittelalters gewesen war - die Basilika - wurde wieder zum Steinbruch. Der Vandalismus geldgieriger, ikonoklastischer Spekulanten macht gegen 1800 das Resultat von Millionen von Arbeitsstunden zunichte, die die Erbauer unter der Führung der Äbte Hugo und Petrus Ve-nerabilis zum Ruhme Gottes für das Bauwerk aufgewendet hatten. Von der Klosterkirche von Cluny ist nur noch ein Flügel des großen Querschiffs mit seinem achteckigen Glok-kenturm erhalten geblieben.

Hätten die Erbauer der Abtei über einen Computer verfügt, so hätten sie ihr Meisterwerk zweifellos mit Hilfe von sorgfältig ausgewählten CAD-Pro-grammen erstellt. Jede Form, so auch die architektonische, von ihren Grundkomponenten bis hin zu den komplexesten Formkombinationen, läßt sich anhand eines schrittweise realisierten und verfeinerten theoretischen Modells erfassen - vom Grundraster bis zur räumlichen Darstellung.

Trotz ihrer Einzigartigkeit unterscheidet sich die Abtei von Cluny

nicht grundsätzlich von den zahllosen Produkten industrieller Baukunst, deren Realisierung sich auf mathematische Abstraktionen abstützt. Die im CAD-Bereich verwendete universelle Sprache ermöglicht es, ein Objekt als Modell, seine virtuelle Abbildung, zu simulieren und darzustellen. Die Simulation einer „virtuellen Realität" ist heute fester Bestandteil jeder technischen oder wirtschaftli-

chen Machbarkeitsstudie, sei es in der Industrie, in der Städteplanung oder in der Architektur.

Als drei junge Ingenieure der Ecole nationale superieu-re des arts et metiers beschlossen, die Peter-und-Paul-Kir-che von Cluny mit Hilfe des Computers „wieder aufzubauen", standen sie vor ähnlichen Problemen wie seinerzeit die Erbauer im 11. Jahrhundert -mit dem Unterschied, daß sie die Pläne nicht entwickeln, sondern aufgrund der technischen und künstlerischen Konzepte des Bauwerks rekonstruieren beziehungsweise „nachempfinden" mußten.

Wie? Nun, aufgrund der Rohdaten, wie sie sich aus der systematischen wissenschaftlichen Auswertung der Ausgrabungspläne und aus den Skizzen des großen amerikanischen Archäologen Kenneth John Conant ergaben. Als Arbeitsinstrumente wurden Software-Produkte verwendet, die keine Besonderheiten aufweisen, abgesehen von der Tatsache, daß es sich um „Standard-Werkzeuge handelt, die tagtäglich in Hunderten von Industriebetrieben, Bauunternehmen, Pla-nungs- und Architekturbüros sowie in Stadtverwaltungen eingesetzt werden. Ganz gewöhnliche Werkzeuge also im Dienst eines eher ungewöhnlichen archäologischen Projekts.

Mit Hilfe von Programmpaketen entstehen dreidimensionale Modelle in Form von fixen oder beweglichen

körperhaften Darstellungen. Die CAD-Pläne werden zu Draht- oder Flächenmodellen umgesetzt, welche die horizontalen und vertikalen Ausdehnungen und Proportionen der verschiedenen Gebäudeteile maßstabgetreu wiedergeben. Ein Datenbanksystem ermöglicht es, sämtliche definierten geometrischen Formen aufgrund der geometrischen Basiselemente darzustellen und zu kombinieren.

Der Ingenieur formt die Objekte wie ein Steinmetz und fügt sie dann wie ein Architekt zu einem Ganzen zusammen. Das oben erwähnte Programmpaket fügt der Genauigkeit der erarbeiteten Modelle die realistische Darstellung von Formen und Perspektiven hinzu.

Hier vollzieht sich das eigentliche „Wunder" der Informatik: Im virtuellen Raum der Arbeitsstation entsteht ein realitätsgetreues Bild eines architektonischen Meisterwerks.

Die Archäologen bekommen mit CAD ein äußerst vielseitiges Hilfsmittel in die Hand, ermöglicht es ihnen doch, Bauten aus längst vergangenen Zeiten virtuell zu rekonstruieren und in ihre ursprüngliche Umgebung hin-einzuprojizieren. Die Informatik bietet damit bewährte Werkzeuge zur Überprüfung und Erhärtung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Darüber hinaus erschließt die grafische Datenverarbeitung eine fast unerschöpfliche Bilderquelle für Schule und Wissenschaft.

Der Autor ist Mitarbeiter von IBM, Schweiz. Gekürzte und redigierte Fassung aus: „IBM-Nachrichten" 43 (1993), Heft 312. "CAD = Computer Aided Design (computergestützte Konstruktion). Anm. d. Red.

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