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Heath oder Chaos?

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Wenn am letzten Februartag 1974 der englische Wähler über das kommende Kräfteverhältnis im Unterhaus entscheiden wird, so bleibt es fraglich, ob er mit seiner Stimme direkten Einfluß auf jenen Notstand seines Landes ausüben kann, der ebenso durch eine Radikalisierung der Beziehunigen zwischen Regierung und Gewerkschaften wie auch durch rapid wachsende Arbeitslosigkeit, alarmierende Inflation, Dreitagewoche, radikale Sparmaßnahmen in der Energieversorgung, andauernden Wertverlust des Pfunds und einen mehr als düsteren Ausblick in die Zukunft gekennzeichnet ist. Ginge es nur um die Frage, ob man für oder gegen den durch radikale Elemente in den Gewerkschaften manipulierten Wohlstandsanspruch, für oder gegen die rücksichtslosen und infla-tionsfördernden Lohnforderungen ist, wären die Dinge übersichtlich und ein überzeugender Sieg der regierenden Konservativen eine sichere Sache. Doch so einfach wird es nicht gehen. Denn weder können die drei wichtigsten Gegenspieler — die Konservativen, die Labour Party und die aufstrebende Liberale Partei — eine Patentlösung für die Krisen-Situation anbieten, noch lassen sich manche Forderungen der Wichtigsten Gewerkschaften als unangemessen abtun.

Umfragen der Meinungsforscher ließen nach der ersten Woche des für 21 Tage anberaumten Wahl-kampfes klar erkennen, daß der größte Teil der Wähler bereit wäre, die Konservativen in einem noch nie dagewesenen Maß zu unterstützen, um dadurch der Regierung die Möglichkeit zu geben, die durch die Bergarbeitergewerkschaft symbolisierten Radikalen der Linken in die Schranken zu weisen. Doch schon in der zweiten Woche zeigte sich das Komplexe der Lage: den Konservativen war es nicht gelungen, den Wahlkampf auf die wesentliche Fragestellung zu beschränken und die Labour Party konnte aufholen, weil sie auch andere, häufig demagogisch interpretierte Probleme zur Diskussion stellte, so etwa das fünf-zigprozentige Ansteigen der Lebenshaltungskosten während der vergangenen drei Jahre, Englands Mitgliedschaft in der EWG, die Forderung nach Verstaatlichung der im Ausbau befindlichen ölgewinnung aus der Nordsee — die in den achtziger Jahren mehr als zwei Drittel des englischen Verbrauchs decken soll —, Steuerreformen zugunsten niedriger und mittlerer Einkommen u. a. m. Dieser taktische Erfolg der Opposition lenkte die Aufmerksamkeit von den prinzipiellen Fragen des nationalen Überlebens ab und dürfte das Wahlresuiltat beeinflussen.

Ein weiteres Symptom, wie wesentliche, leicht verständliche und im Grunde einfache Probleme, die die nackte Existenz eines Landes betreffen, durch opportun-taktische Lipperabekenntnisse der Parteien überlagert werden, ist nach Aussagen der Meinungsforscher das spektakuläre Aufrücken der Liberalen Partei in der Gunst der Wähler. Sie präsentierte ihr Programm in jener unverbindlichen Art, die der englischen Schwäche für den Kompromiß und der traditionellen Ablehnung jeder harten Konfrontation entgegenkommt. Die Liberalen repräsentierten seit jeher im englischen politischen Leben die Partei des „vernünftigen“ Protests, obwohl es ihnen in der Praxis immer an entsprechender politischer Substanz fehlte und ihre Abgeordneten dm Parlament eine heterogene Gruppe mit absolut diffusem Verhalten büdeten. Auch heute keine klar profilierte „Dritte Kraft“ darstellend, dürfte doch die Liberale Partei auf Kostfn der Konservativen Einbrüche in Rand- und Wechselwählerschichten erzielen.

Mit einer Summe von umgerechnet 23 Millionen Schilling (die beinahe den Wahlkampfkosten der Konservativen gleichkommt) beteiligte sich die „Aims of Industry“ — eine Interessengemeinschaft der Freien Marktwirtschaft — an der Bearbeitung der englischen öffentlichen Meinung. Mit Zeitungsinseraten und Plakatierungsaktionen versuchte sie, den Wahlkampf wieder auf die wesentlichen Ursachen der gegenwärtigen Krise zu konzentrieren. (Es wurde sogar Stalins Geist beschworen, um auf die Bedrohung der nationalen Existenz durch kommunistisch manipulierte Gewerkschaften hinzuweisen). „Lassen Sie sich nicht um Ihre Freiheit beschwindeln“, mahnte ein Plakat, das hinter einer lachenden Maske das wohlbekannte Gesicht des sowjetischen Diktators zeigt. Und Eldon Griffiths, konservativer Unterstaatssekretär für Umweltschutz, apostrophierte die Oppositionspartei: „Der beinahe ausschließlich kommunistische

Schwanz wedelt mit dem Labour-Party-Hund. Mr. Wilson, haben Sie den Mut, im Interesse des Landes diesen gefährlichen Schweif abzuhacken?“ Diese Beschwörung der „roten Gefahr“ wird verständlich, wenn man an den Schock denkt, den die Radikalen der Linken in der Öffentlichkeit hervorriefen, als sie ganz offen klassenkämpferische und revolutionäre Kriterien über das Wohl des Landes stellten.

„England und sein Schicksal sind uns gleichgültig“ — dies von Gewerkschaftsfunktionären proklamiert — brachte der Mehrheit zum Bewußtsein, daß sich das Land in einer echten Gefahrenzone befindet. So sagte der kommunistische Führer der schottischen Bergarbeitergewerkschaft, Mr. M. McGahey, daß jede Gewerkschaft, die die gegenwärtige, beinahe faschistische Regierung akzeptiert, die Antwort der britischen Arbeiterklasse zu verspüren bekommen würde“. Solche Töne waren bisher in England unbekannt und müßten, trotz einer gewissen Lethargie, die sich seit dem Zerfall des Empires lähmend bemerkbar macht, eine klare Absage der Wähler an jene linke Extremisten auslösen, die über einen unverhältnismäßig großen Einfluß auf einige mächtige Gewerkschaften und auch auf manche Fraktionen der Labour Party ausüben. (Nur 15 Prozent der Gewerkschaftler beteiligten sich an den Wahlen ihrer führenden Funktionäre und gaben so der disziplinierten extremen Linken die Möglichkeit, in der Gewerkschaftsführung unproportionale Machtpositionen zu beziehen.)

Doch gleichzeitig muß man wissen, daß im Verhältnis zu seinen kontinentalen Kollegen der englische Bergarbeiter als tatsächlich unterprivilegiert gelten muß: sein Lohn liegt um ein Drittel unter dem westeuropäischen Niveau, die meisten englischen Gruben sind veraltet und die Lebensqualität in englischen, waisischen und schottischen Bergbauregionen läßt mehr als zu wünschen übrig. Die Tatsache, daß sich' der gerechten Anliegen der Bergarbeiter falsche Anwälte bemächtigten und die Bereitschaft der konservativen Regierung, „den relativen Beitrag verschiedener Arbeitneh-

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