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Heil und Befreiung

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Pro und Kontra Befreiungstheologie: Auszüge aus einer Laudatio auf Gustavo Gutierrez und Kritik an Leonardo Boff von einem Pädagogen, der nichttheologisch argumentiert.

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Pro und Kontra Befreiungstheologie: Auszüge aus einer Laudatio auf Gustavo Gutierrez und Kritik an Leonardo Boff von einem Pädagogen, der nichttheologisch argumentiert.

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Ob der südamerikanische Theologe Leonardo Boff innerhalb der sogenannten Theologie der Befreiung eine Ausnahmestellung einnehmen kann, wird immer wieder diskutiert. Manche meinen, er könne oder müsse nach der Vatikanischen Instruktion als „Nichtbetroffener" eingestuft werden. Aber gerade das scheint nicht möglich, wenn man die Grundlagen seiner Theologie überprüft.

In seinem Werk „Erfahrung von Gnade. Entwurf einer Gnadenlehre" (Düsseldorf 1978) begibt

sich Boff auf marxistischen Boden, wenn er das Wort „Klasse" in die Diskussion einführt. Denn damit hat er sich eindeutig auf die marxistische Begrifflichkeit festgelegt. Entsprechend dem Dialektischen und Historischen Materialismus (DI AM AT) und seinem Denken gibt es eben nur die Gegensätze von Reichen und Armen, von Besitzern und Nichtbesitzern, von Ausbeutern und Ausgebeuteten usw. und dementsprechend den Klassenkampf.

Dieses marxistische Denkmodell ist einfach zu eng und zu einseitig, als daß man da die Grundwahrheiten der Theologie hineininterpretieren könnte, wie Boff es beispielsweise tut, wenn er davon spricht, daß es „gesellschaftliche und klassenbezogene Bedingungsfaktoren in der Gnadenlehre" (S. 47) gebe. Es wird ganz unerträglich, wenn er behauptet, daß der Horizont der Gnadentheologie durch die kirchlichen Machthaber eingeengt wird. Das ist Marxismus in Reinkultur! Damit hängt auch zusammen, daß er der klassischen Gnadenlehre vorwirft, daß sie „nicht hinlänglich den gesellschaftlichen Aspekt der Sünde berücksichtige" und „deshalb auch die Rechtfertigung nicht in strukturellen und sozialen Begriffen" habe verdeutlichen können (S. 29).

Hier kommt ein neuer Begriff in die Theologie herein, der ursprünglich von dem norwegischen Friedensforscher Johann Galtung stammt, die „strukturelle Gewalt", ein außerordentlich schillernder Begriff, der soviel meint wie ungerechte Herrschaftsverhältnisse. Man geht also davon aus, daß gerechte Herrschaftsverhältnisse geschaffen werden müssen, und nur wenn das der Fall ist, kann auch Gnade wirksam werden.

Welch einen anmaßenden Anspruch vertritt hier die „Theologie der Befreiung"! Sie glaubt also wirklich, durch die Beseitigung der „strukturellen Gewalt" auch die Sünde beseitigen zu können. Hier scheint mir ein geradezu primitiver Gesellschaftsoptimismus und -utopismus dahinter zu stekken, der letztlich auch nicht das Heü vom Menschen, sondern von der Gesellschaft kommen sieht. Der Mensch kann immer nur so gut sein, wie es die gesellschaftlichen Verhältnisse sind!

Damit sind wir schon bei der marxistischen These, daß der Mensch das „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" ist. Hier ist nicht mehr der einzelne Mensch gefragt, sondern eben die Gesellschaft. Dem steht ganz einfach gegenüber, daß einer, eine Person, nämlich der Gottmensch Jesus Christus, das Heil gebracht hat und nicht eine Gesellschaftsordnung. Weil das aber so ist, sind auch Heü und Befreiung (nämlich

von der strukturellen Gewalt) nicht dasselbe.

Heil und Befreiung sind aber bei Boff identisch. Damit gehen Theologie und Politik eine Ehe ein, denn sie wollen ja dasselbe. Daher heißt es bei Boff: „Nicht nur der Mensch muß befreit und gerechtfertigt werden, sondern auch das ganze tätige Netz seiner Beziehung zur gesellschaftlichen,

wirtschaftlichen und politischen Wirklichkeit, die unter dem Zeichen struktureller Sünde steht" (S. 225).

Ja, steht nicht die ganze Welt -so muß man doch fragen - unter dieser „strukturellen Gewalt" und wird nicht der, der sie aufzuheben versucht, eben nur neue Strukturen von Gewalt setzen, weil das das Zeichen der Sünde

ist, von der wir uns nicht selbst befreien können wie Münchhausen an den eigenen Haaren aus dem Sumpf, sondern von der wir erlöst werden müssen? Diese Erlösung hat schon begonnen durch Jesus Christus, aber sie ist doch noch nicht vollendet.

Den aufgezeigten Ungereimtheiten bei Boff steht auch das Problem Individuum-Person-Gesellschaft als eine Art ungereimtes Dreieck in seiner „Befreiungstheologie" voran. Einerseits schreibt er, daß in unserer Zeit eine Tendenz bestehe, den Menschen als Person zu werten, weil er eine letzte Größe sei, „die auf keine andere Wirklichkeit reduziert werden kann" (S. 46), andererseits aber werden im Widerspruch dazu das Heil und die Befreiung von der Gesellschaft erwartet, die offenbar der Person vorgeordnet ist.

Boffs Denkansatz zu widersprechen, heißt freilich nicht, daß man Armut und Elend ihren Lauf lassen soll. Aber der Christ weiß auch, daß es in dieser Zeit keine vollkommene Lösung dieser und aller Fragen gibt.

Ich behaupte nicht, daß alles falsch ist, was in Boffs Buch steht. Das kann ich auch gar nicht, denn als Nichttheologe ist es nicht meine Sache, ein solches Urteil abzugeben. Ebenfalls behaupte ich nicht, daß Boff kein frommer Mann sein könnte. Das wäre vermessen. In seinem „Kreuzweg der Gerechtigkeit" scheint mir viel Schönes und tief Durchdachtes zu stehen, aber die Grundlagen seiner Theologie in diesem Buch sind mehr als zweifelhaft. Ein so vielschichtiges Werk, wie das Boffs, kann mit diesen Überlegungen natürlich nicht ausgeschöpft werden.

Der Autor ist Professor für Pädagogik an der Erziehungswissenschaftlichen Hochschule Rheinland-Pfalz, Abteilung Koblenz.

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