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Heilige Schrift und heilige Schriften

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Ein Stamm in Afrika verfügt über keinen Ausdruck für „Erlösung“. Die Bibelübersetzer bedienen sich eines Bildes,, das jedem Stammesangehörigen bekannt ist: „Den Kopf aus der eisernen Schlinge lösen.“ Das Bild führt zurück in die Zeit der Sklavenhändler. Die Gefangenen wurden, mit einem Eisenring um den Hals aneinandergekettet, durch das Land zum Schiff getrieben. Es kam vor, daß in einem Dorf ein Häuptling unter den Gefangenen einen Freund entdeckte. Er kaufte dann seinen Freund los, so daß diesem im wahrsten Sinn des Wortes der Kopf aus der Eisenschlinge gelöst wurde. Es gibt kein eindringlicheres Bild als dieses, um zu sagen, was „Erlösung“ bedeutet.

Die Bibel ist im Laufe der Jahrhunderte das Lesebuch der Welt geworden. Die angeführten Beispiele zeigen, wie sehr der Bibelübersetzer auf den Bewußtseinshintergrund des Volkes eingehen muß, für welches er eine Übersetzung anfertigt. Die Bibel ist heute bei 95 Prozent der Weltbevölkerung bekannt. Etwa 630 Übersetzungen sind zur Zeit im Gange, wobei 3000 Übersetzer am Werke sind. 90 Prozent dieser Arbeit geschieht in Afrika und Asien.

Die Konsequenzen aus den Bibelübersetzungen für die Kirche selbst sind enorm. In der Vergangenheit wurde in den Missionsschulen meist Portugiesisch, Englisch oder Französisch unterrichtet. In diesen Sprachen wurden die neuen Christen ausgebildet, aber auch die Priester und Bischöfe lernten den Glauben und die Theologie in einer fremden Sprache. Durch die Bibelübersetzungen doku-

mentierten die jungen Kirchen den Willen, das Wort Gottes in der eigenen Sprache zu vernehmen, aberauch, sich selbst in ihrer Sprache äußern zu wollen. So schöpft ihre Theologie aus der Bibel. Gleichzeitig bereichert sie sich damit aus den Kulturschätzen der jeweiligen Umwelt.

Die Arbeit mit der Bibel läßt für die jungen Kirchen ähnlich reiche Früchte erhoffen, wie die Bibelbewegung eines Pius Parsch in unserem Lande zur Vertiefung des Glaubens beigetragen hat. In Uganda, Zaire, Ni- gerien, in den verschiedenen Staaten Lateinamerikas sind Bibelkreise wie Pilze aus dem Boden geschossen. Aus diesen Bibelkreisen entwickelten sich in Lateinamerika und Afrika die Basisgemeinden. Von diesen Gemeinden ist bekannt, daß sie ihr gesamtes Leben, von der religiösen und schulischen Erziehung bis zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit, aus dem Geist der Bibel gestalten. Eine Ordensfrau, die in Brasilien als Ärztin tätig ist, berichtet von ihrem Team, das von Dorf zu Dorf zieht. Eine Schwester betreut die Katechisten, eine andere die Mütter, sie selbst kümmert sich um die Kranken. Wenn die Leute nach einer Bibelrunde zu ihr in die Ordination kommen, fragen sie aufgeregt, ob wirklich alles wahr sei, was ihnen da aus der Bibel vorgelesen wurde. Die Bibel macht sie betroffen. Solche Menschen sind bereit, die Botschaft der Bibel im Leben ihrer Gemeinschaften zu verwirklichen.

„HeUige Schriften“ gibt es in jeder Religion. Versteht man darunter die Offenbarung Gottes, dann verfügen auch die schriftlosen Völker über Offenbarung. Die heiligen Schriften sind Ausdruck der religiösen Erfahrung und Zeugen der Begegnung des Menschen mit dem Absoluten. Was sollen die jungen Kirchen, die im Bereich dieser Schriften leben, von diesen Schriften halten? Enthalten sie nicht auch von Gott geoffenbarte Wahrheiten? Wenn aber der gläubige Moslem im Koran das Wort Gottes an sich gerichtet weiß, müßte dann ein Christ aus islamischer Umwelt nicht ebenfalls im Koran das an ihn gerichtete Wort Gottes erkennen?

Könnte die Kirche im Sinne des Dialogs die Schriften der Buddhisten, die indischen Veden, den Koran als inspiriert anerkennen? Hätten dann die Schriften der Religionen eine ähnliche Funktion wie die Schriften des Alten Bundes? Welche Rolle käme diesen Schriften bei den Teilkirchen in der Liturgie, dem liturgischen Gebet und in der Meditation zu? Freilich würde sie der Glaube an Christus von innen her verwandeln, ein neues Verständnis eröffnen und sie auf diese Weise zu Wegbereitern für Christus machen.

Wir dürfen nicht übersehen, daß die Schriften der Religionen für Außenstehende schwer zugänglich sind. Die buddhistische Bibel umfaßt 45 Bände.

Sie wird fast nur von Gelehrten gelesen, dennoch übt sie einen entscheidenden Einfluß auf die Religionen aus. Innerhalb der buddhistischen Richtungen gibt es keine einheitliche Auffassung darüber, welche Schrift als authentisch gilt und welche nicht. Historisch gesichert gilt, daß der Kanon der Schriften, der uns im Westen am besten bekannt ist, 80 v. Chr. zusammengestellt wurde.

Die indischen Veden wurden im 2. Jahrhundert v. Chr. von „Sehern“ geschaut und als das anfanglose heilige Wort empfangen. Um aber den Charakter der Heiligkeit und Ewigkeit des Veda besser zu bewahren, wurde von der nachfolgenden Exegese behauptet, er sei ohne Autor verfaßt, da er nichts anderes sei als die Offenbarung des ewigen Wortes selber. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich um die Offenbarung eine vielfältige Literatur gerankt - Hymnen, Opfertexte, Erklärungen. Für Europäer ist kaum eine Übersicht zu gewinnen. In Indien hat sich von seiten der katholischen Kirche 1972 ein Forschungsseminar zusammengetan, um die Schriften des Hinduismus zu studieren, vor allem um zu untersuchen, wieweit solche heilige Texte für die christliche Liturgie, die kirchlichen Feste, das Brevier und die Meditation verwendet werden können.

Leider sind Versuche, den Dialog zwischen den Religionen auf der Basis der religiösen Erfahrung zu führen, noch nicht überall anzutreffen. Im buddhistischen Raum steht die christliche Ortskirche solchen Versuchen äußerst reserviert gegenüber. In Kairo gibt es christlich-moslemische Gebetsgemeinschaften, welche nach Art der Suffis mit Hilfe islamischer Texte (auch nach dem Koran) beten.

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