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Heilt offene Wunden!

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Viele leiden heute noch unter ihren furchtbaren Erfahrungen zwischen 1938 und 1945. Nicht auf offenen Wunden trampeln, sondern liebevolle Zuwendung wird ihnen helfen.

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Viele leiden heute noch unter ihren furchtbaren Erfahrungen zwischen 1938 und 1945. Nicht auf offenen Wunden trampeln, sondern liebevolle Zuwendung wird ihnen helfen.

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Es gibt unter uns eine schweigende Generation. Viele, die die Jahre von 1938 bis 1945 durchleben mußten, können nicht reden. Sie erzählen wohl äußere Detaüs, etwa schreckliche Erlebnisse, Bombennächte. Sie sprechen aber kaum über das, was sie damals gedacht, getan oder nicht getan haben. Sie müssen fürchten, kein Verständnis zu finden, da sie nach dem heutigen Wissensstand, nach heutigen Uberzeugungen beurteilt werden.

Vereinfachende Schuldzuweisungen machen darüber hinaus Angst, verschließen den Mund, treiben in Isolierung, erwecken Bitterkeit.

Viele wollen nicht aufhören aufzuzeigen und anzuklagen Monat um Monat, Jahr um Jahr, und merken nicht, daß sie auf offenen Wunden herumtrampeln; in einem Klima der Lieblosigkeit, grober Anklage und Verurteilung kann Vergangenheit nicht bewältigt werden. Jugendliche nervt das nicht wenig, da sie eine nicht geringe Fixierung an das vergangene Böse bemerken.

Und doch hätte diese Generation viel zu sagen, müßte sich vieles von der Seele reden. Viele haben ihre schönsten Jugendjahre verloren, haben Ubermenschliches geleistet und gelitten. Viele haben die ganze Sache zu spät durchschaut. Der Idealismus so mancher wurde mißbraucht und zerstört. Andere haben dermaßen gelitten, daß sie nicht vergessen, vielfach auch nicht vergeben können.

Sie müßten reden können.

Aus vielen Begegnungen sei einiges angeführt:

„Ich war BDM-Führerin voll glühender Begeisterung. Ich habe wirklich an den Führer geglaubt. Mir war kein Einsatz zu hoch. Daß ich in meinem Idealismus so getäuscht worden bin, kann ich nicht verwinden. Ich fühle mich mißbraucht. Ich glaube niemandem und nichts mehr.“

„Ich habe als Soldat soviel Furchtbares gesehen und mitgetan - ich kann es nicht vergessen. Ich kann nicht mehr an Gott glauben, der derartiges zugelassen hat und mitansehen kann. Ich will nicht mehr denken, will meine Ruhe. Mich freut das ganze Leben nicht mehr.“

„Ich bin Jüdin hier vom Grund. Bekannte, mit denen ich groß geworden bin, haben uns plötzlich angespuckt und ins KZ gebracht. Meine Mutter, mein Vater, mein Kind sind umgekommen. Ich kann nicht vergessen und vergeben. Ich kenne die Bestie Mensch.“

„Wir haben uns in der Sakristei getroffen, wollten Christus und die Bibel besser kennenlernen, um eines Tages als Christen auch ohne Priester und Messe überleben zu können. Wir haben den Stalinismus noch mehr gefürchtet. Politisch haben wir nicht opponiert; wir haben auch Steuern gezählt und Arbeitsdienst geleistet. Sind wir schuldig, weil wir nicht gegen die Nazi gekämpft haben?“

„ch war 16, als man uns mit raffinierter Täuschung zu SS-Leuten gemacht hat. Dann hat man uns in ein Verbrechen gejagt und gedroht: Wenn der Krieg verlorengeht, dann seid auch ihr verloren. Wehrt euch eurer Haut!“

„Ich war Mitglied eines katholischen Vereins. Von heute auf morgen haben mich im März 1938 bisher gute Bekannte beschimpft, bedroht. Ich habe mich geduckt, habe geschwiegen aus Angst vor dem KZ, auch um meiner Frau und meiner Kinder wegen. Ich war im Krieg, habe mit schlechtem Gewissen gekämpft. Ich wollte überleben.“

Immer wieder kommt das Wort: „Was hätten wir tun sollen? Wir konnten mit niemandem reden. Uberall gab es Spitzel. Kinder wurden in der Schule und der Hitlerjugend verhetzt, die eigenen Eltern anzuzeigen.

Ein unbedachtes Wort, eine unvorsichtige Frage konnte KZ und Tod bringen. Wir konnten vieles nicht glauben, was heimlich geflüstert wurde.“

Wo gibt es Gemeinschaften, wo Menschen aus ihrer Verschlossenheit heraustreten und alles abladen können? Wo sie die Wahrheit sagen und zu sich selber stehen können, ohne beurteilt oder verurteilt zu werden, wo sie voll angenommen werden mit ihrer

Enttäuschung, ihrem Leid, ihrer Bitterkeit, ihrer Aggression und auch mit ihrer Schuld?

Gibt es größere und kleinere kirchliche Gemeinschaften, die sich in einem Klima der Liebe und Barmherzigkeit vor Gott versammeln und in Offenheit und Vergebungsbereitschaft miteinander sprechen und die Vergebung Gottes füreinander erbitten?

Viele haben bisher gemeint, die Ohrenbeichte genüge. Sie nimmt wohl die persönliche Schuld, aber ersetzt nicht die heilende Gemeinschaft der Kirche und ihren Dienst der Versöhnung.

Ob Pfarrgemeinden, Gemeinschaften oder Gruppen Zusammenkünfte initiieren können, wo das Leben zur Sprache kommt und sich Menschen vor Gott begegnen? Ob Menschen mit Zentnerlasten auf dem Herzen zu kommen und zu sprechen sich getrauen?

Solche Zusammenkünfte sind ein Wagnis des Glaubens und der Liebe. Es braucht die Kraft des Geistes Gottes, um Arme zu trösten mit der Frohbotschaft, um Gefangene freizusetzen, zerschlagene Herzen zu heilen, Verzweifelte aus ihren Gräbern zu rufen— ein Gnadenjahr des Herrn geschehen zu lassen (siehe Lk 4,16-21).

Viele können sich von den Wunden der Vergangenheit nicht selber heilen, wenn nicht die Kirche in Einheit für sie betet (siehe Mt 18,19f). Es könnte geschehen, daß Menschen frei werden, Frieden finden, wieder leben dürfen, auferstehen. Darf sich die Kirche diesem Dienst entziehen?

Viele gute Christen beten für die anderen, für die „Sünder“, und halten sich selber heraus: Ich bin soweit in Ordnung — aber die anderen sind das Problem; ich habe nichts angestellt, aber die anderen ...

Heute gilt es, die Dimension des „Wir“, die Dimension der Kirche im Gebet zu entdecken. Auch Christus ist am Kreuz zur „Sünde“ geworden, hat sich nicht von der Sünde der Welt distanziert, sondern sie auf sich genommen und vor Gott verantwortet.'

Beter aus dem Alten Testament weisen uns da die Spur: „Von dem Tag an, als der Herr unsere Väter aus Ägypten herausführte, bis auf den heutigen Tag waren wir ungehorsam gegen den Herrn, unseren Gott. Wir hörten sehr bald nicht mehr auf seine Stimme. Jeder von uns folgte der Neigung seines bösen Herzens; wir dienten anderen Göttern und taten, was dem Herrn, unserem Gott, mißfiel“ (Bar l,15ff; siehe Dan 3,24ff; Dan 9,3ff).

Diese heiligen Beter zögerten nicht, mit allen Sündern ihres Volkes solidarisch zu sein und vor Gott „wir“ zu sagen, die gemeinsame Sünde vor Gott zu bekennen. Sie distanzieren sich nicht, wie wir uns hochmütig vom Versagen der Kirche und von den Sünden anderer distanzieren.

Mögen in diesen Zeiten Beter erwachen, die fürbittend für unser ganzes Volk und für die Kirche unseres Landes eintreten.

Wieviel haben wir selber noch nicht vergeben? Wie viele Menschen der Vergangenheit verurteilen wir noch immer? Das blok-kiert auch uns.

Der Autor ist Pfarrer von Hernais (Wien).

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