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HEIMATLOSE MENSCHEN HABEN ANGST

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Das Aufkommen eines Bedürfnisses nach Heimat, Beheimatetsein in den Menschen steht scheinbar in scharfem Gegensatz zu deren immer größerer Mobilität. Zur zunehmenden internationalen Verflechtung des politischen und wirtschaftlichen Lebens bildet der Rückzug in die ländliche Zweitwohnsitz-Idylle einen auffälligen Kontrast.

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Das Aufkommen eines Bedürfnisses nach Heimat, Beheimatetsein in den Menschen steht scheinbar in scharfem Gegensatz zu deren immer größerer Mobilität. Zur zunehmenden internationalen Verflechtung des politischen und wirtschaftlichen Lebens bildet der Rückzug in die ländliche Zweitwohnsitz-Idylle einen auffälligen Kontrast.

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Gibt es dafür eine Erklärung aus psychologischer Sicht? Alfried Längle, Existenzanalytiker und Logotherapeut nach Viktor Frankl in Wien, meint dazu: „Ich weiß nicht, ob es tatsächlich eine neues Heimatbewußtsein gibt. Sicher ist, daß trotz der Mobilität-vom Wochendflug bis zur Karibikreise-, trotz des Internationalismus (EG!) die Tendenz zur Abgrenzung vor dem Fremden zugenommen hat. Auch das Aufbrechen der Grenzen mittels der Medien trägt zu dieser Haltung bei. Dahinter steht die Suche nach dem, was über Jahrhunderte hinweg als Heimat gepflegt und hochgehalten wurde.”

Längle meint, daß die erstmals mögliche weltweite Kommunikation, der schnelle Zugriff auf Informationen, die Vernetzung mittels Computer als Gegenreaktion eine Rückbesinnung auf die verlorengegangenen Werte der Heimat mit sich gebracht hätten: „In dem Daheimbleiben von früher war ja auch etwas enthalten, was wir heute vermissen, nämlich Schutz, Halt und Raum für den Menschen.” ,

Was spiegelt sich nun in dieser neuen Sehnsucht nach Heimat?„Als Existenzanalytiker sehe ich darin eine fundamentale Motivation des Menschen, nämlich Geborgenheit zu erleben. Die Erfahrung von Geborgenheit bestimmt wieder die spätere Möglichkeit, Sinn im Leben zu finden. In der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens einen Boden zu finden, der„ Halt gibt und trägt, ist für den Menschen existenziell notwendig. Auf einer anderen Ebene bedeutet das das Gefühl, angenommen, akzeptiert zu sein. Dadurch bekommen wir Raum bei anderen Menschen, können Vertrauen fassen”, erläutert Längle. Der Begriff Heimat enthalte die psychologische und existenzielle Verheißung, einen Raum zu bieten, in dem man geschützt und geborgen leben könne, einen Ort, wo man dazugehöre und angenommen sei. Der Gegensatz dazu, die Fremde, sei der Raum, in dem man um sein Dasein kämpfen müsse.Natürlich könne Fremde auch zur Heimat werden -und umgekehrt.

Wo der Mensch Angenommensein erfahre, dort sei seine Heimat. Daß diesesGefühl sich nicht mehr so selbstverständlich wie vor hundert Jahren einstellen könne, dazu trage die Mobilität - auch durch Auslagerung des Arbeitsplatzes - und die rasch wechselnden Informationsflüsse bei. „Heute kommt die grenzenlose Welt ins Wohnzimmer, aber wir erfassen das nicht wirklich”, betont Längle.

Auch die innere Um-orientierung weg von den tradierten Wertordnungen hin zu neuen bringe Unsicherheit und Heimatlosigkeit mit sich. Da habe auch der Aufbruch des Zweiten Vatikanischen Konzils eine wichtige Rolle gespielt.

Die Sehnsucht der Großstädter nach der heilen ländlichen Welt, nach dem „Häuserl am Land im Großmutterstil” sei der Niederschlag unreflektierter Tendenzen auf der Suche nach Bodenständigkeit und Heimat.

Da es heute nicht möglich sei, auf die Gefühlslage von vor hundert Jahren zurückzugreifen, sich an vergangenen Rahmenbedingungen zu orientieren, könne man - auch wegen der Blut- und Boden-Erfahrung dieses Jahrhunderts - nicht mehr zurück.

„Rechtsradikalismus und Fundamentalismus basieren hier auf einer falschen Romantisierung, die Suche nach Halt, Struktur, nach Grenzen, nach dem Boden, auf dem ich stehe, sie prägen ein falsches Bild von Heimat. Wenn aber ein Heimatgefühl vollständig fehlt, entsteht das Gefühl des Un-Heimlichen. Wird das Leben von Un-Heimlichem regiert, entsteht Angst, Rastlosigkeit, Flucht, Angst vor der Ver-Nichtung.”

Ruhe in sich selbst

Ein neues Heimatgefühl könne nur dann entstehen, wenn der Mensch in sich selbst Heimat finde, gemeinsam mit den Menschen, mit denen er verbunden sei. So werde der Heimatbegriff, die Heimat verinnerlicht. „Wenn ich mein Dasein und das Dasein anderer Menschen annehme, dann beginnt Heimat”, sagt Längle. „Das Zentrum dieser Heimat ist in mir. Sonst bin ich auch am Ort meiner Geburt ein Vertriebener und nicht wirklich zu Hause. Wer Heimat gefunden hat, findet Ruhe.”

Alle Versuche, etwa Bauernhöfe mit der Erzeugung von Alternativprodukten am Leben zu erhalten und durch regionale Zusammenschlüsse Gleichgesinnter solche Gemeinschaften zu stärken, beruhten im Grunde uf diesem Prinzip, Gerade die übertriebene Sehnsucht nach der Welt, nach Reisen, könne ein Zeichen dafür sein, daß die Menschen keine Heimat in sich hätten.

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