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Heimkehr in Edelstal

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Sandgelb ist der Sommer gewesen, hell und trübe zugleich: eine Zeit der bei Tageslicht umherschweifenden Gespenster. Verschleierte Bäume standen am Rand der Wiesen, die mattgrün waren und vom zähen, dünnblättrigen Unkraut bewachsen, das gegen Abend unter dem hohen, falbenen Himmel grau glänzte wie aus gepreßtem Metall. Wenn sich in der schwülen, nicht voll ausbrechenden Hitze ab und zu die Luft trocken bewegte, dann klirrten irgendwo die gesprungenen Fenster eines baufälligen Hauses, und ledern gewichtig knirschten die bunten Fähnchen über dem Eingang in den Laden des Eisverkäufers. Staub stieg von den Straßen, die oft unbefahren waren und noch von den Rissen und Sprüngen der eilig entfernten Seuchenteppiche gezeichnet. Etwas sollte geschehen, aber es geschah nicht; etwas wollte losbrechen, aber es überwand offenbar jenen Punkt nicht, an dem es den unsichtbaren Dingen gelingt, als Erscheinungen hervorzutreten; etwas reifte heran und wurde doch nicht reif, blieb im Zustand der starr grinsenden Jugendlichkeit mumifiziert. Auch die Gewässer sickerten tückisch unter dem schlammigen Boden tiefer Rinnen, und jedes Karussel quietschte am frühen Nachmittag, unter den wenigen und bereits erheblich angetrunkenen Besuchern des Kirtags.

Das eiserne Geschäft allein werkte, maskierte sich, prustete eisern heiter in dieser mühsam verheimlichten, mit heiterer Verschwörermine weggeleugneten Öde, in der irgendwo in Stallungen hinter gemalten Blumengirlanden das notgeschlachtete Vieh stank, während die ländlich gekleidete Wirtin mit angstvoller Neugier die letzten Börsenmeldungen studierte, um vom relativen Wertzuwachs des wertverminderten Geldes zu erfahren und auf das Klingeln des Telephons zu warten, ai-' die Stimme des Mannes aus F. .lkfurt, der auch noch die letzte große Reisegesellschaft absagen würde, Brief folgt umgehend. Und daß die Bundesdeutschen, die trotz allem gekommen sind, ja nichts bemerken! Also nur fidel mit dem Fiedeln, flink mit dem Servieren, frohgemut Brust heraus, und das bestens bewährte schelmische Funkeln in den fröhlichen Blick!

Es ging wie immer am Schnürchen.

Doch blieb trotzdem etwas hohl; und in das Wimmern und Jauchzen der immer noch tadellos dahin-schluchzenden Geigen klapperte heiser das Blech, seltsamerweise, klapperte vielleicht bereits jener Blechteller der mageren Jahre, mit dem man abkassieren würde nach dem Musizieren, jener Blechnapf, in dem man die Groschen hin- und herschieben würde, um dann, mit einer verstohlenen und doch verwegenen Bewegung die letzte eigene Banknote über all die Groschen zu breiten, als Einladung, als gutes Beispiel, als Herausforderung des Schicksals, das sich dann auch prompt einstellen würde in Gestalt eines Gastes, der endlich stehenblieb, die Geldbörse zog, unter Scheinen wählte, um dann mit einem einzigen Griff den Lockvogel einzustecken und rasch und wie ein Kamel majestätisch wallend durch den Haupteingang zu verschwinden. Durch den Haupteingang! Und trotzdem unauffindbar. Nur den Blechnapf nahm man nicht, nicht einmal aus Versehen, und also klapperte und klimperte er bereits jetzt, mitten im Wohlstand, wie dem wohlversorgten Familienvater mitten in der Nacht die Zähne klappern, wenn er, vom allzu reichlich genossenen Abendessen geweckt, plötzlich nachdenken muß über den Schwund der Muskeln im Alter und über das Nachlassen der Sehkraft. Etwas schien an diesem Sommer nicht ganz zu stimmen.

Auch die Touristenmassen gebär-deten sich weniger anmutig als in früheren Jahren, trugen größere Bäuche in engeren Hosen, standen noch lauter schwatzend und schmatzend um die Würstelstände herum, oder sie steckten sich Stockfische in die rund aufgerissenen Mäuler, klappten am Waldrand Tisch und

Sessel auf, verstreuten bunte Papierfetzen, warfen leergetrunkene Bierbüchsen ins Gebüsch und atmeten während der ganzen Zeit den vertrauten Benzingestank des eigenen Automobils ein. Von den verschmutzten Küsten des Mittelländischen Meeres war man zu den Binnengewässern geflohen; man hatte die Enge der eigenen vier Wände mit der Enge eines Hotelzimmers getauscht; und wenn man schunkelnd grölte, so geschah das ja doch nur der Ausspannung wegen, gewissermaßen auf ärztlichen Rat: eine Fitneßübung der Lungen im tröstlichen Kollektiv der Gleichgesinnten!

Leicht, aber doch bedrückend war das Bangen in diesem Sommer, und milde war die Beklemmung. Hinter den Lidern der Einschlafenden haben grüne Blitze gezuckt, und manche Menschen glaubten, die vier apokalyptischen Reiter zu sehen: die Seuche, den Krieg, die Hungersnot und den Tod — aber die schrecklichen Vier saßen nicht hoch zu Rosse, lagerten vorläufig irgendwo auf einer Lichtung, spielten Schach, schmunzelten stille Gedanken in sich hinein, ließen uns gewähren, und wenn sich jemand mit seinem Moped oder gar mit dem Auto auf das ruhige Plätzchen verirrte, wurde er angegrinst von vier harmlosen Männern, die beim freundlichen Gruß die eisernen Zähne sehen ließen, vergoldete Zähne, an denen noch der Bierschaum klebte in weißgrauen Flocken.

Nicht alle spürten den Druck. Manche waren durch stramm eingeübte Rücksichtslosigkeit unempfindlich geworden für Bilder und Zeichen; andere berauschten such mit dern Aberglauben einer falschen, an Rechenmaschinen geketteten Wissenschaft; und die Dritten wollten ihrem ungetrübten Blick nicht glauben, trugen ihre bangen Herzen zum Arzt, der keinen Fehler finden konnte, denn die Ursache des Druckes lag nicht im Vegetativen, sondern in der zwischenmenschlichen Atmosphäre; und die Vierten und die Fünften lebten über die wachsende Angst hinweg, da sie gerade Ferien hatten und die arbeitsfreie Zeit nützen wollten: schnaufend noch den letzten Genuß aus dem Tag quetschten, um sich dann, von so viel Freizeitarbeit ermüdet, endlich schlafen zu legen.

Manche aber waren unterwegs, um sich einen sicheren Ort zu suchen für die nahende Zeit der Einsamkeit, die rund um den Menschen in der Stille wuchs. Von den Flüchtenden früherer Jahrhunderte wurden sie empfangen, von den Spuren einer längst verschwundenen Angst, die sich seinerzeit festgekrallt hat im Schutz eines Berges, hineingebohrt hat in das Erdreich, Türme und Mauern errichtet hat aus klobigem Stein, ja die alten Verstecke und Schlupfwinkel

öffneten sich plötzlich: der ziellos Umherstreifende befand ' sich auf einmal in der Mitte des Labyrinthes, war in das Geheimnis des leisen Überlebens aufgenommen worden, war mit den früheren Baumeistern der schöpferischen Furcht im genius loci vereint. Wo?

Für mich war dieser Augenblick im nördlichen Burgenland gekommen, an einem warmen und heiteren Tag, in Gesellschaft. Wir waren von Wien aus nach Hainburg gefahren und gleich hinauf auf die Kuppe des Braunsberges, hinüberblickend auf den blauen Höhenzug der Kleinen Karpaten und über das Moosgrün der saftigen Auwälder hinweg in die Weite des Marchfeldes; doch noch mehr wurde das Auge vom dichten Gestrüpp gereizt, von den Ruinen steinerner Wachtürme im stacheligen Gebüsch, südlich der Preßburger-straße. Wir fuhren hinunter, fuhren auf Kittsee zu, spürten: das hier war uraltes Grenzland, bebaut, aber doch wieder bereit, sprießend zu verwildern. Rodungen waren hier niemals endgültig gedacht, und die Regulierung der Gewässer schien mit der geheimen Einsicht erfolgt zu sein, eine spätere Überflutung könnte das Vordringen eines zukünftigen, vielleicht noch gar nicht geborenen Kriegsvolkes aufhalten.

Daß hier Grenzwächter aus dem asiatischen Stamm der Petschenegen gehaust haben, ist bekannt. Man weiß auch, daß sich der Ort für Friedensverhandlungen zwischen Westen und Osten eignete; Mißtrauen ließ die westliche Seite nicht weiter vordringen, Mißtrauen hielt auch die Leute des Ostens zurück.

Im Jahre 1198 haben sich hier Kreuzritter versammelt. 1264 wurde hier Kunigunde von Brandenburg mit dem ungarischen Thronfolger verheiratet. Kaum 30 Jahre später wurde hier die sogenannte Güssinger Fehde mit einem Friedensvertrag beendet. Papst Sixtus IV. wollte von hier aus zwischen Kaiser Friedrich III. und Mathias Corvinus vermitteln. Im Jahr nach der Schlacht von Mohäcs, 1527, empfing hier König Ferdinand eine Gesandtschaft seines Widersachers Johann von der Zips, und 1683, zu Beginn des großen Türkenkrieges, hielt Kaiser Leopold hier eine Heerschau seiner Truppen ab.

Wo aber war das Volk?

Wir fuhren weiter, bogen nach rechts ab, fuhren zwischen allmählich ansteigenden Äckern auf den Hundsheimer Berg zu, fuhren an der sogenannten Römerquelle vorbei und durch die Hauptstraße der Ortschaft Edelstal, denn irgend jemand hat irgendeinmal von einer Kellergasse gesprochen, die hier, knapp am Dorfrand, liegen sollte, menschenverlassen, im Schatten alter Bäume, zum Einlagern von Wein kaum noch benützt.

Da war sie schon: die Kellergasse von Edelstal. Links und rechts führten Treppen unter die Erde hinunter. An manchen Stellen war das Erdreich vom steinernen Gewölbe gerutscht, und das sah aus, als sähe man da und dort das bloße Knochengerüst im Pelz eines toten Tieres. Alle Keller waren fest verschlossen. Unkraut verwuchs die Türen; Rost hatte die Angeln in dunkle, längst unbewegliche Klumpen verwandelt; dicke Querbalken festigten die zerfurchten Bretter. Die Keller waren wehrhaft aneinandergereiht, bildeten Ecken, hinter denen man sich verstecken konnte, gaben die Aussicht frei, Verbargen aber den Späher. So hat man vor mehr als dreitausend Jahren in Mykene gebaut, kräftig, zweckmäßig, auch im kleineren Maßstab monumental. 250 Generationen trennen uns von jenen längst verschwundenen Achäern, doch ist das Bauprinzip erhalten geblieben: nicht etwa der Stil jener sagenhaften Figuren des trojanischen Krieges, sondern die Notwendigkeit der Selbsterhaltung und die Entschlossenheit, zu überleben. Die Kellergasse von Edelstal offenbarte sich in dieser hellen Stunde als Teil eines bescheidenen Festungssystems, als Schlupfwinkel für die Bewohner dieses Grenzlandes, denn ob die Herren Kreuzritter waren oder Hochzeitsgäste, ob sie Friedrich hießen, Mathias oder Ferdinand, ob sie als

Krieger kamen oder zum Friedensschluß: Für die Bevölkerung des geduckten Bauernlandes waren sie gefährlich. So flüchtete man vor Freund und Feind, flüchtete zu den Weinfässern, flüchtete unter die Erde. Die Sprache hat den Vorgang in einem Spruch konserviert: „Als hätte sie die Erde verschluckt...“

Da standen wir also in der Kellergasse. Und hatten Petschenegen vergessen und Awaren und alle Heerzüge dieser Welt, horchten nur in uns hinein. Die Stille wuchs und die Unruhe schwand. Vielleicht flogen die Reiter der Apokalypse über unsere Köpfe hinweg und verschonten uns hier, an diesem allerletzten Fluchtort, der uns noch geblieben ist: in diesem Versteck, das von all den unsichtbar gewordenen Flüchtlingen dieser letzten paar hundert Jahre verteidigt wurde, still, zäh, verbissen. Ein Vogel schrie. Im wild wuchernden Gras lagen die grauen Steine wie die versteinerten Gesichter toter Männer, deren Barte längst mit dem Wurzelwerk verwachsen waren. Hier, durch die Einheit der Zeit mit jenen Toten verbunden, war man endlich daheim.

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