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Heiße Eisen, kühle Köpfe

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Einen Weg aus der Krise der Architektur suchte das Symposion „Mensch und Raum" kürzlich in Wien. Dabei ergab sich die Notwendigkeit, sich über die menschlichen Grundwerte zu einigen.

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Einen Weg aus der Krise der Architektur suchte das Symposion „Mensch und Raum" kürzlich in Wien. Dabei ergab sich die Notwendigkeit, sich über die menschlichen Grundwerte zu einigen.

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Ist es der Architektur möglich, eine neue Harmonie zu schaffen? Wie soll die gegenwärtige Krise der Baukunst überwunden werden?

Ende Mai fand in Wien ein internationales Architektursymposion statt, das sich durch seine Zielsetzungen, Fragestellungen, durch die Zusammensetzung der Teilnehmer wie auch in der Art der Durchführung erfreulich von ähnlichen Veranstaltungen abhob: Das Generalthema war ein umfassendes, auf Ganzheit abzielendes.

Vier thematische Grundpfeiler sollten in vier Arbeitsgruppen erste Fundamente erhalten. Unter Leitung jeweils eines Architekten gemeinsam mit einem Architekturkritiker sollte — gemäß dem Programm der beiden Initiatoren Justus Dahinden und Bruno Zevi

— darüber nachgedacht werden, wie man der Grundberufung der Architektur — Herstellung von Harmonie zwischen Mensch und Raum im Sinne einer ganzheitlichen Dienstleistung — wieder auf die Spur kommen kann.

Wie verlaufen die Beziehungen — im Sinne einer Ganzheit — zwischen Raum und Ökologie, Raum und Mensch, Raum und Philosophie, Raum und Zukunft? Die Fragestellungen zeigen die Breite und die Komplexität der Probleme, mit der sich der Architekt heute zu befassen hat.

Architekten, Raumplaner, Ethnologen, Studenten verschiedener Fachrichtungen diskutierten über jene Grundwerte, die auch das Baugeschehen bestimmen sollten.

Eine öffentlich zugängliche Veranstaltung schloß sich an, angefüllt mit Referaten prominenter Gäste. Im Mittelpunkt stand das Ziel, eine internationale Forschungsgruppe zu gründen, mit dem Zweck, die Wechselbeziehungen zwischen dem Menschen und dem architektonischen Raum unter den Bedingungen der'Gegenwart zu erforschen. Die Krise der Architektur — in Gestalt vieler Bauwerke sichtbar, in der Stimmung allgemeiner Unzufriedenheit spürbar — drängt dazu, neue Zielvorstellungen zu entwickeln und konkrete Modelle für die Zukunft zu erarbeiten.

Daß man diesmal im ersten Anlauf keine verwertbaren Rezepte vorlegen konnte, war von Anfang an klar. Es zeigte sich sehr bald, daß zunächst mehrere Barrieren überwunden werden müssen. Eine davon ist die Tatsache, daß ein sich rasant ausbreitendes Spezialistentum zu einer Art babylonischer Sprachenverwirrung geführt hat. Diskussionen, in denen Begriffe auftauchen, die wissenschaftlich nicht exakt beschreibbar sind, finden keinen gemeinsamen Nenner mehr. Das betrifft zum Beispiel die „Ganzheit" ebenso wie „Mensch", „Raum", „Qualität", „Schönheit",

„Menschlichkeit" und auch „Liebe".

Eine zweite Barriere bilden die so sehr verschiedenen Weltbilder, die sich trennend zwischen die Gruppen und die Generationen schieben. Auf der einen Seite noch Fortschrittsglaube, Wachstumsideologie und Technikgläubigkeit, auf der anderen einfach: Kritik, Skepsis und Zweifel. Die offene und tolerant geführte Konfrontation hat indessen auch ihr Gutes. Der hier erzwungene Lernprozeß innerhalb der Gruppen regt zum Umdenken an und bringt positive Erfahrungen.

Die Trennungslinien zwischen den Vertretern der verschiedenen Weltbilder entsprechen wohl nicht dem Geist, aber der Struktur der pluralistischen Gesellschaft. Es ist bemerkenswert, wie breit aufgefächert heute Architektur interpretiert wird. Referenten wie Justus Dahinden, Ernst Giesel, Jorge Glusberg, Otto Kapfinger, Frei Otto, Dennis Sharp, Paolo Soleri, Pierre Vago, Bruno Zevi sind durch viele Publikationen besonders in Fachkreisen weltweit bekannt. Die Unterschiedlichkeiten zeigen, wie engagiert man auf der Suche nach dem richtigen Weg ist.

Zwei Aspekte sollen hier im Sinne von „Ganzheit" herausgehoben werden: Einmal der Standpunkt von Bruno Zevi, der die Notwendigkeit hervorhebt, die Elektronik in eine humanisierte Architektur einzubinden. Und dann der Entwurf der Weltraumstädte von Paolo Soleri, dessen Visionen an Kunstwerke erinnern.

Einige von den Gruppen erarbeitete Formulierungen zeigen, daß bei diesem Symposion zumindest Wegweiser aufgestellt wurden:

„Es gilt heute die durch den Menschen gefährdeten Grundlagen der lebenden Natur zu erhalten und deren Regenerierung zu fördern."

„Der Boden ist die Mutter von Verstorbenen, einigen Lebenden und vielen, die noch nicht geboren sind. Die Mutter ist niemals unser Eigentum."

„Unbegrenztes Wachstum, auch im Bauen, ist nicht lebensfähig

und zerstört ökologische Systeme •* me.

„Räumliche Entwicklung ist nur möglich, wo wir auf Grundlage der Erfahrung Experimente wagen."

„Wir finden keine eindeutige architektonische Philosophie."

Wer hören kann, der hört: Sehr behutsam sind da viele heiße Eisen aufgegriffen worden. Mögen sich an ihnen viele die Finger verbrennen. Es wird sich auszahlen.

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